Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
den Verlust bemisst sie allein. Ihre Erlebnisse hat sie niedergeschrieben. Elf handgeschriebene Seiten, und am Ende drei schlichte Zeilen Bilanz: »Nun das war mein Leben und ist mein Leben. Was noch kommt, steht in Gottes Hand. Panchici Martha.«
Wo der deutsche Osten lag
Die politische Landkarte wurde immer wieder neu geschrieben.
Von Dieter Langewiesche
Das vereinte Europa, das nun entsteht, sucht nach einer gemeinsamen Geschichte. Sie soll die unterschiedlichen Geschichtserfahrungen zusammenführen und aussöhnen. Das bedeutet nicht, dem Einzelnen, den Nationen die eigenen Geschichtserinnerungen zu nehmen, indem sie über einen europäischen Leisten geschlagen werden. Es geht vielmehr darum, die nationalen Erinnerungsgeschichten miteinander zu verknüpfen und sie in eine Zukunft zu öffnen, die nicht mehr den nationalpolitischen Gegensätzen der Vergangenheit folgt.
Wie schwer jedoch ein offenes Gespräch unter Europäern auch heute noch ist, zeigt sich immer wieder, wenn die historische Konfliktgeschichte des sogenannten »deutschen Ostens« zur Debatte steht. So geriet die Berliner Stiftung »Flucht, Vertreibung, Versöhnung«, die gerade aufgebaut wird, sofort in Verdacht, vornehmlich deutsche Vertreibungserinnerungen pflegen zu wollen. Welche Wirkung von ihr oder dem »Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität« ausgehen wird, das ja eine europäische Erinnerungskultur entwickeln soll, lässt sich noch nicht abschätzen.
Offenkundig ist jedoch, dass alle diese geschichtspolitischen Erinnerungsstätten auf das 20. Jahrhundert blicken. Doch welche Kontinuitäten leiten sich her aus der Zeit davor? Und wo liegen die Brüche? Was verstand man zu
verschiedenen Zeiten unter »deutscher Osten«, und wo in Europa lag er überhaupt? Danach zu fragen ist wichtig, denn der »deutsche Osten« ist ein Stereotyp, dessen Bedeutung sich im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte mehrfach verändert hat.
Eine Nation – ein Nationalstaat: Als dieses Leitbild seit dem späten 18. Jahrhundert den europäischen Kontinent umzugestalten begann, waren territoriale Konflikte unausweichlich. Denn um viele Gebiete konkurrierten mehrere Nationen. Das Zukunftsprojekt Europa der Nationen versprach, ein demokratisches Ideal zu erfüllen, doch von ihm gingen zugleich Gefahren aus. In voller Schärfe sichtbar wurden sie erstmals in den Revolutionen von 1848. Binnen weniger Monate verwandelte sich der demokratische Traum vom europäischen Völkerfrühling in den Alptraum eines nationalpolitischen Kampfes aller gegen alle.
Die deutsche Nation stand im Zentrum dieser Konflikte. Sie hatte über Jahrhunderte stets in vielstaatlicher Gestalt gelebt. Als sie es 1848 unternahm, sich nach dem Vorbild der westlichen Nachbarn staatlich zu vereinen, musste dies an nahezu allen Grenzen, die der neue Nationalstaat erhalten sollte, zu Auseinandersetzungen führen. Das ließ sich nicht vermeiden; zu verflochten waren die rivalisierenden historischen Ansprüche benachbarter Nationen und ihre Siedlungsgebiete. Damals schienen der deutschen Nationalversammlung in Frankfurt am Main und dem österreichischen Reichstag in Kremsier/Kroměříž in Mähren sogar Lösungen für einen friedlichen Ausgleich zu gelingen. Mit dem Scheitern der Revolution scheiterten jedoch auch diese hoffnungsvollen Versuche.
Dieter Langewiesche
Der 1943 in Österreich geborene Experte für die Geschichte des Liberalismus und Nationalismus in Deutschland hat sich auch intensiv mit nationalen Gründungsmythen befasst. Der überzeugte Europäer ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen und wurde 1996 mit dem renommierten Leibniz-Preis ausgezeichnet.
Die deutsche Nationalbewegung träumte 1848 davon, ihren Nationalstaat in den Grenzen des Deutschen Bundes von 1815 zu errichten, also bis nach Südtirol und an die Adria, östlich bis an die Leitha, ganz Böhmen und Mähren einschließend. Das hätte bedeutet, die Habsburgermonarchie in eine deutsch-österreichisch und eine ungarisch beherrschte Hälfte aufteilen zu müssen und dauerhaft mit der italienischen Nation in Konflikt zu geraten. Europäische Kriege hätten gedroht. Der kleindeutsche Nationalstaat hingegen, für den sich die Frankfurter Paulskirche schließlich mit knapper Mehrheit entschied, war für die Nachbarn erträglich. Das gilt auch für die Entscheidung der Paulskirche, Preußens Osten, also West- und Ostpreußen sowie Posen, in den künftigen deutschen
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