Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
einer deutschen Heim-ins-Reich-Politik zu verhindern.
Einen deutschen Osten sollte es im neuen Europa nicht mehr geben. Die nationalsozialistische Gewaltpolitik hatte ihn zum Sinnbild von Entrechtung und Vernichtung gemacht. Die nationalstaatliche Neuordnung setzte in Mittel- und Osteuropa erneut riesige Zwangstransfers in Gang. Viele Nationen erlitten sie; auch die deutsche.
Noch in der Gegenwart, mehr als ein halbes Jahrhundert nach diesem Geschehen, fällt es schwer, die Erinnerung daran in Geschichtserfahrungen zu überführen, die aufeinander hören und sich wechselseitig zu verstehen suchen. Aber nur wenn dieses Gespräch über die Geschichtsgräben der Geschichte hinweg gelingt, kann »deutscher Osten«, dieses Stereotyp, das seine Bedeutung mit dem Zeitgeschehen immer wieder änderte, zu einem europäischen Erinnerungs-
und Verständigungsort werden. Breslau, das heutige Wroclaw, ist ein Beispiel dafür. Aus dieser deutschen Stadt ist eine polnische geworden. Einst zur polnischen Krone, dann zu Böhmen, schließlich zu Preußen gehörig, galt sie in den nationalpolitischen Debatten während der Weimarer Republik als ein »Bollwerk des deutschen Ostens«.
Unter der nationalsozialistischen Herrschaft wurde sie ein anderer Ort. Die jüdischen Breslauer wurden in die Emigration getrieben, deportiert und ermordet. Im Krieg kamen Rüstungsbetriebe und ausländische Zwangsarbeiter, dann strömten deutsche Flüchtlinge aus dem Osten in die Stadt, schließlich setzten Vertreibung, Flucht und Zwangsaussiedlung der Deutschen ein, und es kamen polnische Vertriebene aus den ostpolnischen Gebieten, die an die Sowjetunion fielen. Breslau wurde polonisiert und blieb doch lange für Polen eine Fremde, die man sich als Heimat erst erschließen musste. Heute ist Wroclaw eine weltoffene Stadt, die sich ihrer wechselvollen Geschichte stellt und das vielfältige Leid von Flucht und Vertreibung zu einem Thema macht, mit dem man sich auseinandersetzt. Sie ist auf dem Weg zu einem europäischen Erinnerungsort, in dem ganz unterschiedliche Geschichtserfahrungen zusammenfinden können, ohne ihre Besonderheiten zu verlieren.
TEIL III
KRIEG, FLUCHT, VERTREIBUNG
Die Waisen von Versailles
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die osteuropäische Landkarte komplett umgestaltet, Millionen Deutsche fanden sich in neuen Staaten wieder. In Oberschlesien tobte zeitweilig ein Bürgerkrieg.
Von Dietmar Pieper
Lange bevor irgendjemand etwas davon ahnen konnte, nahm das Schicksal von Millionen Menschen eine neue Wendung, als sich im Jahr 1914 ein polnischer Pianist und der amerikanische Präsident zum ersten Mal begegneten. Von diesem Tag an wurden Ignacy Paderewski, ein weltberühmter Musiker mit Wohnsitz in Kalifornien, und der ins Weiße Haus gewählte Hochschullehrer Woodrow Wilson zu politischen Weggefährten. Gemeinsam sollten sie europäische Geschichte schreiben. Paderewskis große Stunde kam im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs. Unter Wilsons Führung hatten die Vereinigten Staaten ihre Neutralität aufgegeben und kämpften nun an der Seite Frankreichs und Großbritanniens gegen das deutsche Kaiserreich und die Habsburgermonarchie. Im Januar 1918, während Europa noch ein Schlachtfeld war, stellte der US-Präsident sein »Programm des Weltfriedens« vor. Wohl nie zuvor hatte die Menschheit einen Plan mit solchem Anspruch aus dem Mund eines so Mächtigen vernommen; der missionarische Horizont reichte vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen bis zur Schaffung eines Völkerbundes. In Punkt 13 seines 14-Punkte-Programms versprach Wilson einen »unabhängigen polnischen Staat, der die von unbestritten polnischen Bevölkerungen
bewohnten Gebiete einschließen sollte«. Auch »ein freier und sicherer Zugang zum Meere« müsse zum Staatsgebiet gehören. Es war ein Triumph für alle polnischen Patrioten. Ganz besonders aber triumphierte Ignacy Paderewski. Er hatte es geschafft, Wilson für die polnische Sache zu begeistern. Punkt 13 war Paderewskis Punkt. Und er war die Ouvertüre für eine grundlegende Neuordnung Osteuropas.
Als der Krieg im Herbst 1918 zu Ende ging, war das lange Zeit Unvorstellbare eingetreten: Ausgerechnet die drei Dynastien, die sich Polen im 18. Jahrhundert zur Beute gemacht hatten, waren erledigt, die Hohenzollern, die Habsburger und die Romanows. In drei Schritten, 1772, 1793 und 1795, hatten Preußen, Österreich und Russland das Königreich Polen unter sich aufgeteilt. Jetzt war für die Polen der Tag gekommen, an dem
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