Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
untergegangenen Habsburgermonarchie und des verkleinerten Deutschen Reiches umfassten. Hier lebten Deutsche, die zuvor deutsche oder österreichische Staatsbürger gewesen waren. Nun waren sie ungefragt oder auch wider Willen zu polnischen oder tschechoslowakischen Bürgern deutscher Nationalität geworden.
Wenn die nach dem Ersten Weltkrieg radikal veränderte europäische Staatenordnung friedlich gefestigt werden sollte, mussten alle Beteiligten ihre nationalpolitischen Leitbilder überdenken und ändern. Nicht mehr der ethnisch-kulturell einheitliche Nationalstaat als Ideal, sondern ein Nationalitätenstaat, der einem neuen Selbstverständnis folgt: Die nationalen Minderheiten erhalten verfassungsrechtlich gesicherte politische Rechte, die es ermöglichen, sich staatsbürgerlich und gesellschaftlich zu integrieren, ohne genötigt zu werden, die angestammte nationale Kultur aufzugeben. Die stärkste Bereitschaft dazu unter allen Nationen in Mittel- und Ostmitteleuropa war von den Deutschen und Ungarn gefordert. In der Habsburgermonarchie hatten sie dominiert, in deren Nachfolgestaaten sanken sie ab zu Minderheiten, und die eigenen Republiken, die ihnen die europäische Friedensordnung aus der habsburgischen Konkursmasse zugestand, empfanden sie als nationale Rumpfstaaten.
Der kleinen Republik Österreich haben viele Zeitgenossen nicht zugetraut, überleben zu können. Sich mit der Weimarer Republik zu vereinen, wie es die Provisorische Nationalversammlung des zunächst ausgerufenen »Deutschösterreich« im November 1918 beschlossen hatte, verboten die alliierten Sieger, obwohl US-Präsident Woodrow Wilson das Selbstbestimmungsrecht der Nationen zu einem seiner Kriegsziele
erklärt hatte. Die junge Republik entwickelte jedoch rasch ein eigenes Staatsbewusstsein.
Erst das nationalsozialistische Deutschland machte sie zu einem neuen deutschen Osten, der national nur »erlöst« werden könne, wenn er sich mit dem Deutschen Reich vereine. Diese Politik, die nicht die Existenz von zwei deutschen Staaten anerkennen wollte, mündete 1938 in den sogenannten Anschluss Österreichs, den viele als großdeutsche Vollendung der kleindeutschen Staatsgründung von 1871 feierten. Er war jedoch das Ergebnis einer Gewaltpolitik des nationalsozialistischen Deutschlands, das unter der Parole »Heim ins Reich« 1938 seine militärische Expansion gen Osten einleitete. Hitler ließ Österreich in »Ostmark« umbenennen.
Mit dem »Dritten Reich« veränderte sich der Ort des deutschen Ostens in Europa erneut fundamental. Aus Auslandsdeutschen als Bürgern von Staaten im östlichen Europa, deren Vorfahren vielfach schon seit Jahrhunderten dort lebten, wurden nun Volksdeutsche, die von den nationalsozialistischen Machthabern als Instrument ihrer Expansionspolitik eingesetzt wurden. Mehr als sieben Millionen von ihnen lebten östlich und südöstlich der Grenzen des Deutschen Reichs, in den Plänen für ein »germanisiertes« Europa war ihnen eine wichtige Rolle zugedacht. Tatsächlich wurden während des Zweiten Weltkriegs mehr als eine Million Volksdeutsche in das Deutsche Reich oder in eroberte Gebiete umgesiedelt und erhielten die deutsche Staatsangehörigkeit.
»Deutscher Osten« wurde im Zweiten Weltkrieg zu einem rassistischen Eroberungs- und Vernichtungsprogramm. Hitlers Politik, ein riesiges deutsches Ostimperium zu schaffen und sich damit Europa untertan zu machen, brach radikal mit dem, was bis dahin »deutscher Osten« gewesen war. In
einer Hinsicht folgten die Nationalsozialisten jedoch durchaus dem Leitbild des 19. Jahrhunderts: Ziel war der national homogene Staat, nun jedoch rassisch-biologisch aufgeladen. Die deutsche Aggression vernichtete alle Ansätze, umzudenken und nationale Minderheiten ohne Assimilationszwang zu vollberechtigten Staatsbürgern zu machen. Vor allem in der Tschechoslowakei hatte es solche Versuche gegeben. Was daraus geworden wäre und für die deutsche Minderheit, die mehr als ein Fünftel der Bevölkerung stellte, bedeutet hätte, kann niemand wissen. Vor allem aber schuf die deutsche Politik bei den Völkern, die der deutschen Gewalt und Vernichtung ausgesetzt waren, wie bei den Alliierten die Überzeugung, eine dauerhafte Befriedung Europas sei nur mit Nationalstaaten ohne Minderheiten möglich. Deshalb entstanden bei den späteren Alliierten bereits seit 1940 Pläne, nach Kriegsende durch große Umsiedlungen alle Deutschen im künftigen deutschen Staat zu konzentrieren, um die Wiederkehr
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