Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
Königsberg und Memel sowie einen entsprechenden Teil des ostpreußischen Territoriums. Churchill fiel die kaum lösbare Aufgabe zu, die Zustimmung der polnischen Exilregierung zur Verschiebung ihres Staates einzuholen. Die träumte von einem Groß-Polen, der Einverleibung der deutschen Gebiete im Westen plus der Rückgabe des 1939 von der Sowjetunion okkupierten Landesteils im Osten.
Beim zweiten Treffen Churchills, Roosevelts und Stalins Anfang Februar 1945 in Jalta sprachen die »Großen Drei« in fast allen der acht Verhandlungsrunden über Polen, doch zu einer Einigung kam es nicht. Sie bestätigten allerdings die Curzon-Linie im Osten, »wobei sie in einigen Gebieten fünf bis acht Kilometer zugunsten Polens davon abweichen soll«. Polen solle dafür »einen beträchtlichen Gebietszuwachs im Norden und Westen« erhalten.
Wichtiger als die künftigen Grenzen Polens war jetzt die Frage, wer das Land nach dem Ende des Krieges regieren sollte. Churchill unterstützte nach wie vor die polnische Exilregierung in London, die mit der Niederschlagung des Warschauer Aufstands durch die Wehrmacht ihren letzten
Einfluss bei den Alliierten verloren hatte. Stalin hatte mittlerweile gehorsame polnische Genossen zur Hand, die in einem Geheimvertrag seine gewünschte Grenze anerkannten. Sie übernahmen sofort die deutschen Gebiete, die durch die Rote Armee erobert worden waren. Schon bevor Berlin befreit war, verkündete der Kommunist und Chef der polnischen Übergangsregierung Boleslaw Bierut die Übernahme der Verwaltung in den deutschen Gebieten und erließ ein Dekret, nach dem das »aufgegebene und verlassene« Vermögen beschlagnahmt werden sollte.
Als es an die Verteilung der Kriegsbeute ging, im Juli 1945 auf der Potsdamer Konferenz, hatten die Kommunisten bereits vollendete Tatsachen geschaffen. Die Briten und Amerikaner sahen sich nicht mehr in der Lage, sie zu revidieren. Präsident Harry Truman, der anstelle des überraschend verstorbenen Roosevelt die USA vertrat, beschwerte sich jedoch darüber, dass mit Polen plötzlich eine weitere Besatzungsmacht aufgetaucht sei, die erhebliche Teile des Deutschen Reichs bekomme. »Auf dem Papier sind es noch deutsche Gebiete«, antwortete Stalin kühl. »In Wirklichkeit, de facto, sind es polnische Gebiete.« Die deutsche Bevölkerung sei »fortgezogen«, sagte der Diktator.
Wie viele Deutsche gab es noch östlich von Oder und Neiße? Churchill sprach von ursprünglich mehr als acht Millionen Deutschen, von denen viele nach Beendigung der Kampfhandlungen zurückkehren würden. »Sie wollen nicht, und die Polen haben auch kein besonderes Verlangen danach«, konterte Stalin. Er sprach von weniger als zwei Millionen Deutschen, die noch östlich der Oder ausgeharrt hätten. Die Oder als neue Grenze war akzeptiert, aber welche Neiße sollte weiter im Süden die Grenze markieren? Die Lausitzer Neiße, die in Nord-Süd-Richtung verläuft, oder die Glatzer Neiße, die weiter südöstlich in die Oder
mündet? Mit dem Glatzer Grenzfluss würden Breslau und Teile Schlesiens weiterhin zu Deutschland gehören und nicht zu Polen. Die Verhandlungen waren festgefahren. Da beschlossen die Großen Drei, die provisorische polnische Regierung anzuhören – deren Vertreter plädierten, wenig überraschend, für die Lausitzer Neiße als Grenze. »Vor allem brauchen wir das Land für die Millionen von Polen, die aus der UdSSR und dem östlichen Teil Polens verdrängt werden«, begründete Stanislaw Mikolajczyk die Warschauer Wünsche. Der polnische Vizepremier war im Ruhrgebiet geboren und führte die bäuerliche Volkspartei an.
Schließlich legten die drei Siegermächte im Potsdamer Protokoll die Verschiebung Polens nach Westen fest, wenngleich »die endgültige Festlegung der Westgrenze Polens bis zur Friedenskonferenz zurückgestellt« werden sollte. Noch in der letzten Sitzung der Konferenz, am Abend des 1. August 1945 gegen 23 Uhr, monierten die Sowjets, dass die Grenze durch Swinemünde verlaufe, und der Passus wurde in »unmittelbar westlich von Swinemünde« verändert. Polen hatte im Osten 180 000 Quadratkilometer überwiegend ländliches Territorium verloren, im Westen 103 000 Quadratkilometer zum Teil industriell entwickeltes Mitteleuropa gewonnen; ein gutes Fünftel des Territoriums des Deutschen Reichs von 1937.
Schon vor der Entscheidung in Potsdam hatten polnische Soldaten an der Oder Grenzpfähle eingeschlagen. Die Regierung der DDR erkannte neun Monate nach Gründung des
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