Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
ostdeutschen Staates im Juli 1950 die Grenze an und nannte sie »Oder-Neiße-Friedensgrenze«. Die Politiker in den Westzonen, in denen die Mehrzahl der Vertriebenen lebte, waren da ganz anderer Meinung. Der Vorstand der SPD wetterte 1949, es sei »ohne Vernunft und Recht«, Polen als Kompensation »für galizische Dörfer deutsche Städte, im
Ganzen ein deutsches Gebiet von etwa zehnfachem Wert, zu übereignen«.
20 Jahre dominierte im Westen Deutschlands die vom überparteilichen »Kuratorium Unteilbares Deutschland« ausgegebene Parole »Dreigeteilt? Niemals!« Dann erst kehrte langsam Realismus ein. Musste man nicht, statt weiter illusorische Forderungen zu stellen, die mit friedlichen Mitteln nicht durchzusetzen waren, die als Folge des deutschen Angriffskriegs geschaffenen Tatsachen anerkennen?
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) bereitete den Boden für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Bundesrepublik. Im Oktober 1965 veröffentlichte die EKD eine »Ostdenkschrift«, in der sie die Anerkennung des Heimatrechts der Polen in den ehemals deutschen Gebieten anregte. Die Schrift, verfasst unter anderem vom späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, provozierte unter Vertriebenenfunktionären und Konservativen einen wütenden Aufschrei. Die Autoren wurden des Verrats beschuldigt, sie bekamen Morddrohungen.
Nicht besser erging es Bundeskanzler Willy Brandt, der am 7. Dezember 1970 in Warschau einen Vertrag über die »Grundlagen der Normalisierung« der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Polen unterzeichnete. Beide Staaten, so hieß es im Artikel I, »stellen übereinstimmend fest, dass die bestehende Grenzlinie« nun die »westliche Staatsgrenze« Polens sei. Als Brandt bei seinem historischen Besuch in Warschau vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettoaufstandes niederkniete, kam es zu wütenden Gegenreaktionen von Vertriebenenfunktionären und Rechten.
Wohl zum letzten Mal war die Oder-Neiße-Grenze nach dem Fall der Berliner Mauer Gegenstand diplomatischer Verhandlungen. Die polnische Regierung hatte im Rahmen
der Zwei-plus-Vier-Gespräche verlangt, dass bei einem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik die deutsch-polnische Grenze völkerrechtlich unangreifbar abgesichert werden müsse. Bundeskanzler Helmut Kohl scheute zunächst die Auseinandersetzung mit den Vertriebenen, verstand aber dann, dass die Deutsche Einheit ohne Vertrag mit Polen nicht zu bekommen war.
Als der Bundestag am 17. Oktober 1991 über den Grenzvertrag abstimmte, votierten 23 Unionsabgeordnete dagegen, neben Erika Steinbach, jetzt Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, zum Beispiel auch Peter Ramsauer. Doch der Christsoziale scheint sich bewegt zu haben: Inzwischen Bundesverkehrsminister, preist er die grenzüberschreitende Mobilität am Ostrand der Republik – und hat mit seinem polnischen Kollegen vereinbart, den Bau einer Eisenbahnbrücke über die Neiße voranzutreiben.
»Das Deutsche ist nicht mehr fremd hier«
Der polnische Historiker Krzysztof Ruchniewicz über die »Aussiedlung« der Deutschen ab 1945, das deutsch-polnische Verhältnis und den Umgang mit der deutschen Geschichte polnischer Städte
Das Gespräch führte Uwe Klußmann.
SPIEGEL: Herr Professor Ruchniewicz, die deutsch-polnische Grenze ist völkerrechtlich verbindlich anerkannt und frei von Grenzkontrollen. Sind Deutsche und Polen jetzt normale Nachbarn?
RUCHNIEWICZ: Wir sind ganz normale Nachbarn in Europa. Was uns in den vergangenen Jahrzehnten getrennt hat, war der Kalte Krieg und diese Grenze, die nun praktisch nicht mehr besteht. Der Austausch nimmt zu, Städte, die getrennt waren, wachsen wieder zusammen wie etwa Görlitz und Zgorzelec.
SPIEGEL: Der Exodus der Deutschen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße ab 1945 wird in Deutschland als Vertreibung, in Polen eher als Aussiedlung bezeichnet. Welchen Begriff halten Sie für angemessen?
RUCHNIEWICZ: In Polen wird der Begriff Vertreibung in diesem Zusammenhang selten benutzt, man unterscheidet eher drei verschiedene Migrationsvorgänge, die in Deutschland unter dem einen Begriff »Vertreibung« subsumiert werden: die Flucht eines großen Teils der Bevölkerung vor der sowjetischen Armee im Frühjahr 1945, die Vertreibungen zwischen Kriegsende im Mai und der Potsdamer Konferenz der Alliierten im August 1945 und die Aussiedlung danach, beschlossen auf dieser Konferenz. In Polen hat man sich lange nicht dafür interessiert, unter welchen
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