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Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Großbongardt
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üblich, von »wiedergewonnenen Gebieten«?
    Krzysztof Ruchniewicz
    Der Direktor des Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien an der Universität Breslau ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen über die deutsch-polnischen Beziehungen. Seit Ende 2010 ist Ruchniewicz, Jahrgang 1967, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Berliner Stiftung »Flucht, Vertreibung, Versöhnung«. Zu seinen auf Deutsch erschienenen jüngsten Publikationen gehört die Aufsatzsammlung »Noch ist Polen nicht verloren« über »Das historische Denken der Polen«.

    RUCHNIEWICZ : Nein, das sind seit Jahrzehnten historische Begriffe, die vor allem in den ersten Jahren nach dem Krieg verwendet wurden. Später war es üblich, von den Nord- und Westgebieten Polens zu sprechen. Es ging darum, den Polen deutlich zu machen, dass sie zwar im Osten Gebiete verloren, aber auch altes polnisches Territorium hinzubekommen hatten.
    SPIEGEL: Was war Stalins Ziel bei der Westverschiebung Polens? Wollte er die Polen zwingen, sich künftig mit Moskau gutzustellen?
    RUCHNIEWICZ: Das war ein perfides Kalkül Stalins. Die Sowjetunion hat Polen abhängig gemacht, zumal sie wusste, dass zunächst kein westlicher Staat die Oder-Grenze anerkennen würde. So konnten die Sowjets Polen unter Druck setzen.
    SPIEGEL: Sie sind dem wissenschaftlichen Beirat der Stiftung »Flucht, Vertreibung, Versöhnung« beigetreten, die 2008 auf Beschluss des Deutschen Bundestags gegründet wurde. Welche Hoffnungen verbinden Sie mit diesem Projekt?
    RUCHNIEWICZ: Die neue Besetzung des Beirats der Stiftung kann helfen, die Diskussion über schwierige Fragen, etwa der Vertreibung, zu entkrampfen. Die Stiftung will die Thematik von Flucht und Vertreibung in den Zusammenhang des Zweiten Weltkriegs einordnen. Wir werden die Debatten international führen. Daraus kann sich ein gemeinsamer europäischer Blick auf die Geschichte entwickeln.
    SPIEGEL: Was nicht alle wollen. Die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, sagte kürzlich, sie könne es »nicht schönreden«, dass Polen im März 1939 sein Militär teilweise mobil gemacht habe. Das klingt, als habe Polen selbst den Krieg provoziert.

    RUCHNIEWICZ: Ich überlasse es dem deutschen Publikum, darauf zu reagieren. Aus meiner Sicht ist Frau Steinbach für das Verständnis der Geschichte nicht maßgebend. Wenn manche Politiker, die sich über die Geschichte äußern, Probleme haben, den Stand der Forschung zu reflektieren, würde ich ihnen raten, sich einmal an eine Bibliothek zu wenden.
    SPIEGEL: Im Vorkriegspolen herrschte bis 1939 ein nationalistisches Regime, das Minderheiten von Millionen Nichtpolen, von Litauern, Weißrussen, Ukrainern und Deutschen, zu polonisieren versuchte, mit erheblichem Druck. Fällt es in Polen immer noch schwer, dieses Regime kritisch zu bewerten, weil es für eine Periode polnischer Unabhängigkeit steht?
    RUCHNIEWICZ: Es gab am Anfang des 20. Jahrhunderts zwei verschiedene Vorstellungen darüber, wie das künftige Polen aussehen sollte. Es gab die »piastische« Idee mit der Vorstellung, Polen sollten unter Polen leben. Minderheiten spielten darin keine große Rolle. Und es gab die andere, »jagellonische« Idee des 1935 verstorbenen Marschalls Józef Pilsudski von Polen als einem Vielvölkerstaat. Diese beiden Ideen prallten aufeinander. In den dreißiger Jahren gewann die erstgenannte Richtung die Oberhand, unter anderem infolge der Angst vor der desintegrierenden Rolle der Minderheiten. Im heutigen Polen wird die enorme Anstrengung beim Bau des unabhängigen Staates gewürdigt, gleichzeitig aber werden die negativen Seiten der Vorkriegspolitik nicht ausgelassen.
    SPIEGEL: Wie geht man in Polen heute mit Minderheiten um, zu denen auch mehr als 150 000 Deutsche gehören?
    RUCHNIEWICZ : Erst jetzt wird wieder versucht, in einem Staat, der wenige nationale Minderheiten hat, an die Traditionen dieser Kultur anzuknüpfen. So gibt es jedes Jahr in
Polen Festivals für jüdische, ukrainische und deutsche Kultur. Dabei will man immer wieder zeigen, wie wichtig diese Minderheiten waren und welchen Einfluss sie auf die Herausbildung der polnischen Kultur gehabt haben.
    SPIEGEL: Je mehr Deutsche und Polen sich als Europäer begegnen, desto mehr wächst in den früheren deutschen Gebieten das Interesse an der Geschichte. Das ist insbesondere in Breslau spürbar. Ist die Zeit vorbei, in der man in Polen der Meinung war, in Breslau sprächen »selbst die Steine

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