Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
polnisch«?
RUCHNIEWICZ: Diese Zeit ist ganz sicher vorbei. Das Deutsche ist nicht mehr fremd hier. Sie können es auch daran sehen, dass Sie in Breslauer Restaurants vom Kellner auf Deutsch angesprochen werden und in vielen Lokalen die Speisekarte auch auf Deutsch vorliegt. Es gibt ein großes Interesse vor allem bei jungen Leuten an der deutschen Sprache. Ich wünsche mir, dass solche Programme noch mehr gefördert werden. Ich würde es aber auch begrüßen, wenn in deutschen Grenzstädten wie Görlitz Speisekarten auf Polnisch ausliegen und deutsche Kellner die Polen auf Polnisch ansprechen. Das sollte keine Einbahnstraße sein.
SPIEGEL: Herr Professor Ruchniewicz, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
TEIL IV
SCHATTEN DER VERGANGENHEIT
Hitlers letzte Opfer
Nach dem Verlust ihrer Heimat wurden zwölf Millionen Vertriebene auch von ihren Landsleuten im Westen ausgegrenzt. Politiker und Flüchtlingsfunktionäre nährten lange die illusionäre Hoffnung auf eine Rückkehr.
Von Norbert F. Pötzl
Jahrelang hatte der Propagandaminister die »Volksgemeinschaft« beschworen, die auch in der Not zusammenstehe. Das deutsche Volk, hatte Joseph Goebbels wenige Wochen nach Kriegsbeginn im Berliner Sportpalast ausgerufen, habe »mehr als einmal unter Beweis gestellt, dass es bereit ist, für seine nationale Gemeinschaft jedes Opfer auf sich zu nehmen«. Und im September 1940 hatte er bei der Eröffnung des »2. Kriegswinterhilfswerks« die »soziale Volksgemeinschaft« als »das höchste Glück« gerühmt. Als Goebbels aber im März 1945 in Brandenburg Trecks von Volksdeutschen begegnete, die die Nazis einst von Russland nach Polen umgesiedelt hatten und die nun vor der Roten Armee westwärts flohen, notierte er angewidert in sein Tagebuch: »Was da unter der Marke deutsch in das Reich hineinströmt, ist nicht gerade erheiternd.«
Nach dem Ende des Krieges war von der oft gepriesenen Solidarität auch im Volk nicht mehr viel übrig. Als Millionen Vertriebene und Flüchtlinge aus den Siedlungsgebieten im Osten verjagt wurden und in das zerstörte Rest-Deutschland drängten, waren sie für die meisten Einheimischen keine Landsleute mehr, sondern unerwünschte Fremdlinge. Sie wurden als »Polacken« beschimpft, obwohl sie gerade
wegen ihres Deutschseins aus der angestammten Heimat ausgewiesen worden waren. Vertriebenensiedlungen wurden als »Neukorea« oder »Bolschewikien« verspottet. Der Flensburger Landrat Johannes Tiedje grenzte sich gar mit rassistischen Klischees von den unfreiwillig Zugezogenen ab: Er legte dar, »dass wir Niederdeutschen und Schleswig-Holsteiner ein eigenes Leben führen, das in keiner Weise sich von der Mulattenzucht ergreifen lassen will, die der Ostpreuße nun einmal im Völkergemisch getrieben hat«.
Das Gift der Nazi-Propaganda, jahrelang gegen osteuropäische »Untermenschen« verspritzt, wirkte nun auch gegen die Deutschen, die aus dem Osten kamen. Selbst die alliierten Besatzer, die dem NS-Mythos der deutschen »Volksgemeinschaft« aufgesessen waren, wunderten sich über das Ausmaß der Feindseligkeit und Ausgrenzung. Der amerikanische General Charles P. Gross äußerte sich erstaunt über »Gleichgültigkeit und Mangel an Hilfsbereitschaft« der einheimischen Bevölkerung gegenüber ihren vertriebenen Landsleuten. Mancherorts hieß es, »die drei großen Übel« der Zeit seien »die Wildschweine, die Kartoffelkäfer und die Flüchtlinge«.
Rund 12 Millionen Vertriebene trafen bis in die fünfziger Jahre in den Westzonen beziehungsweise der Bundesrepublik (7,9 Millionen) und in der Sowjetzone/DDR (4,1 Millionen) ein, mehrere hunderttausend waren bei Flucht und Vertreibung ums Leben gekommen. Die DDR war bestrebt, die vertriebenen Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn – nunmehr sozialistischen Bruderstaaten – zwangsweise zu assimilieren: Die SED versuchte jede Erinnerung an die alte Heimat zu unterdrücken, Liedgut aus den früheren Ostgebieten wurde im Radio nicht gespielt, Kritik an der Oder-Neiße-«Friedensgrenze« stand unter Strafe. Im Kontrast dazu feierte die Bundesrepublik rückblickend die
angeblich rundum geglückte Integration ihrer Neubürger – was zumindest anfangs auch nicht stimmte.
Es habe kein »Gefühl nationaler Schicksalsgemeinschaft« gegeben, beklagte vor einigen Jahren der Publizist Rüdiger Safranski, 1945 im schwäbischen Rottweil geboren, »aber noch in Königsberg gezeugt«: »Die Westdeutschen wollten mit dem Leid der Vertriebenen
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