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Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Großbongardt
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Deutschen« (BvD). Daneben entstanden im August 1949 die »Vereinigten Ostdeutschen Landsmannschaften« (VOL). Gemeinsam veröffentlichten sie 1950 eine »Charta der deutschen Heimatvertriebenen«, die bis heute in Feierstunden zum »Tag der Heimat« oft mit Politikerlob bedacht, aber auch zunehmend als geschichtsvergessen kritisiert wird.
    »Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung« heißt es gleich unter Punkt 1 der »Charta«. »Als würde man auf etwas verzichten, was einem zustehe«, moniert etwa der Oldenburger Historiker Hans Henning Hahn. Und die Selbstdefinition der Vertriebenen als der »vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen« blendet
völlig aus, dass es zuvor infolge der Nazi-Herrschaft Millionen Tote gegeben hatte.
    Der Publizist Ralph Giordano nennt die »Charta« deshalb »ein klassisches Beispiel historischer Unterschlagungen« und »ein überzeugendes Dokument innerer Beziehungslosigkeit zur Welt der Nazi-Opfer«. Die »damalige moralische Desorientierung der Charta-Autoren« (Hahn) erklärt sich zum Teil daraus, dass von den 30 Unterzeichnern 20 in der NSDAP oder Mitglied der SS waren, wie der Saarbrücker Historiker Erich Später detailliert dargelegt hat: etwa der Bukowina-Deutsche Rudolf Wagner, der im Wannsee-Institut der SS, einer Planungsinstitution für die »völkische« Neuordnung Europas, gearbeitet hatte; oder der ehemalige SS-Sturmbannführer Erik von Witzleben, dessen Karriere von SS-Chef Heinrich Himmler persönlich gefördert worden war und der nun als Sprecher der Landsmannschaft Westpreußen unterschrieb.
    Von rund 200 Vertriebenenfunktionären der ersten drei Jahrzehnte hatte etwa ein Drittel der Hitler-Partei angehört – in der Gesamtbevölkerung war 1945 jeder fünfte Erwachsene »Parteigenosse«. Doch der Bund der Vertriebenen (BdV), der 1957 aus einer Fusion der bis dahin bestehenden Dachorganisationen hervorging, bremst bis heute eine wissenschaftlich fundierte Aufklärung seiner eigenen Geschichte. Die fatalen Formulierungen der Charta waren freilich auch die Folge einer »Opferkonkurrenz«, schreibt der Historiker Michael Schwartz: Die mehrheitlich alteingesessenen Bundesbürger sahen, wie eine Meinungsumfrage von 1951 belegt, in erster Linie die Kriegerwitwen, Invaliden und Bombengeschädigten als hilfebedürftig an; die Vertriebenen rangierten ziemlich am Ende der Opferskala – und erst ganz zuletzt kamen die damals kaum beachteten jüdischen NS-Verfolgten.

    Auch die Währungsreform 1948, mit der das westdeutsche »Wirtschaftswunder« begann, benachteiligte die Flüchtlinge: Sie bekamen zwar, wie jeder, 40 Mark Kopfgeld, verfügten aber, anders als die Einheimischen, über keinerlei Sachwerte. Erst mit dem Lastenausgleichsgesetz von 1952 kam eine sozialpolitische Förderung der Vertriebenen in Gang – die bei Einheimischen Neid und Missgunst weckte. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, die Entschädigung sei großzügig und in vielen Fällen durch fiktive Angaben über den verlorenen Besitz erschlichen.
    Tatsächlich glichen die Zahlungen nach Schätzungen durchschnittlich nur 22 Prozent der ohnehin unterbewerteten, gründlich geprüften Vermögensverluste aus. Die Ent-schädigungen linderten die schlimmste Not und waren eine willkommene Starthilfe – mehr aber nicht.
    Nissenhütten als Notunterkünfte für Vertriebene, Flüchtlinge und Ausgebombte in Hamburg 1946
    Eine politische Partei der Vertriebenen verbuchte unter diesen Umständen schnelle Anfangserfolge, überdauerte aber nur wenige Jahre. Der »Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten« (BHE), gegründet im Januar 1950, erhielt im selben Jahr bei der Landtagswahl im flüchtlingsstarken Schleswig-Holstein 23,4 Prozent der Stimmen, bei der Bundestagswahl 1953 (mit dem Zusatz »Gesamtdeutscher Block«) immerhin 5,9 Prozent. 1957 scheiterte der BHE knapp an der Fünfprozenthürde, danach versank er in der Bedeutungslosigkeit. Seine Funktionäre wechselten zu etablierten Parteien, vornehmlich zur CDU.
    Um die Wählerstimmen der Vertriebenen buhlten sie alle. 1949 stellten Flüchtlinge und Vertriebene 16 Prozent der westdeutschen Bevölkerung. Zwar hielt schon der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) die deutschen Ostgebiete dauerhaft für verloren, öffentlich redete er aber ganz anders. Dabei war zumindest fraglich, ob er wirklich ein Herz für die Heimatlosen hatte: »Wir wollen«, beklagte er sich gelegentlich über die Anstellung schlesischer Schulräte in seinem

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