Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
Bedingungen die Deutschen ausgesiedelt wurden.
Polnischer Ausweisungsbefehl aus der schlesischen Stadt Glatz, Juni 1945
SPIEGEL: Dabei mussten Deutsche innerhalb weniger Stunden mit nicht mehr als 20 Kilogramm Gepäck ihre Heimat verlassen.
RUCHNIEWICZ: Diese Methoden werden heute in Polen kritisiert, die Aussiedlung aber als notwendig angesehen. Polen musste 1,5 Millionen Menschen aus dem ehemaligen Ostpolen integrieren, das sich die Sowjetunion einverleibte, und außerdem waren die meisten Polen nach den Erfahrungen von Krieg und Besatzung nicht mehr bereit, mit Deutschen zusammenzuarbeiten.
SPIEGEL: Die nach 1945 betriebene und offiziell so genannte »Entdeutschung« in den jetzigen polnischen Westgebieten hat tiefe Spuren hinterlassen. Wie viel wissen die heutigen polnischen Bewohner von der deutschen Vergangenheit ihrer Städte?
RUCHNIEWICZ: In den ersten Jahren nach dem Krieg hat man diese Polonisierungspolitik sehr bewusst betrieben. Das ging sogar so weit, dass man Anfang der fünfziger Jahre Postämter anwies, Briefe, die mit »Breslau« adressiert waren, zurückzuschicken, weil es diese Stadt nicht mehr gab, sondern nur Wroclaw. Diese Zeit ist inzwischen vorbei. Die Stadtväter haben in den letzten zwei Jahrzehnten viel getan, um die Vergangenheit dieser großen Stadt zu würdigen. Unsere Stadtväter sehen Breslau als offenen, multikulturellen Ort. Es wurden mehrere wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Publikationen über die Stadtgeschichte veröffentlicht. Lebendige Kontakte mit den ehemaligen Bewohnern werden gepflegt. Zur Popularisierung der Vergangenheit tragen die lokalen Medien viel bei. Wie populär das alte Breslau ist, zeigen viele Internetseiten. Viele Denkmäler und Gedenktafeln
erinnern an die Vergangenheit. Die neue Ausstellung zur Geschichte der Stadt erfreut sich großer Popularität.
SPIEGEL: Wie präsent sind die Verbrechen der Nazis im heutigen Polen?
RUCHNIEWICZ: Noch etwa 20 Prozent der heute lebenden Polen haben den Zweiten Weltkrieg bewusst erlebt. Polen hat fast sechs Millionen Menschen im Krieg verloren, und viele der Überlebenden leiden bis heute an körperlichen und seelischen Schäden durch diesen Krieg und das Besatzungsregime. Präsent ist aber auch, dass Polen von Osten nach Westen verschoben wurde und dass es eine zweite Okkupation in den Jahren 1939 bis 1941 gab, die sowjetische, und das Land nach 1945 in die sowjetische Einflusssphäre fiel.
SPIEGEL: Was ist Ihr Eindruck, wie Deutschland mit seiner Nazi-Vergangenheit umgeht?
RUCHNIEWICZ : Die Bundesrepublik Deutschland hat sich mit dem NS-Regime sehr kritisch auseinandergesetzt. Das zeigt jetzt auch noch mal die Debatte über das Auswärtige Amt. Dabei muss man berücksichtigen, dass es eine gesamtdeutsche Debatte erst seit 20 Jahren gibt.
SPIEGEL: Welche Bedeutung für das deutsch-polnische Verhältnis hatte die Politik von Bundeskanzler Willy Brandt und sein berühmter Kniefall im Dezember 1970?
RUCHNIEWICZ : Brandt kam als erster Bundeskanzler nach Polen. Das war schon ein wichtiger Schritt. Und mit seinem Kniefall hat er die moralische Seite berührt und ein Zeichen für Sühne gesetzt. Brandt hat Maßstäbe gesetzt, was die deutsch-polnischen Beziehungen angeht. Seine Vorgänger Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger hatten ein Nichtverhältnis zu Polen. Seit Brandt muss jeder deutsche Bundeskanzler Polen als Partner in seine Überlegungen einbeziehen.
SPIEGEL: Dem Besuch Brandts in Polen ging fünf Jahre zuvor ein Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder voraus mit dem Satz: »Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.« Das kommunistische Regime in Polen lehnte diese Initiative ab – warum?
RUCHNIEWICZ : Dem Regime missfiel schon, dass die katholische Kirche Polens ihren Schritt nicht mit dem Staat abgestimmt hatte. Denn die Initiative der Bischöfe distanzierte sich von der negativen Sicht der polnischen Regierung auf die Bundesrepublik Deutschland. Es ging um ein grundlegend neues Verhältnis zu den Deutschen. Das war 20 Jahre nach dem Ende des Krieges eine revolutionäre Tat. Mit der Bitte um Vergebung wurde auch reflektiert, was nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Deutschen geschehen ist.
SPIEGEL: Das kommunistische Regime der Volksrepublik Polen begründete die Westausdehnung Polens mit der Wiederherstellung der Grenzen des polnischen Piasten-Königreichs, das vor 1000 Jahren bestand. Spricht man in Polen heute noch, wie in der Volksrepublik
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