Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
nicht behelligt werden.« Der Osteuropa-Historiker Andreas Kossert, der in seinem 2008 erschienenen Buch »Kalte Heimat« den schwierigen Neubeginn schildert, erklärt diese Abwehrhaltung auch psychologisch: »Die Ankunft der Millionen Vertriebenen« habe »wie ein physischer Beweis« gewirkt, »dass der Krieg verloren war«. Nun seien die Vertriebenen »eine Hypothek, eine lästige Erinnerung« gewesen.
Die jetzt in Flüchtlingstrecks und mit Güterzügen in die Westzonen kamen, hatten früher nicht leidenschaftlicher »Heil Hitler!« gerufen und sich nicht häufiger an den Verbrechen der Nazis beteiligt als der Durchschnitt der weiter westlich lebenden Menschen. Trotzdem hatten die Vertriebenen kollektiv den höchsten Preis für den von Hitler entfesselten Krieg und die Verbrechen der Nazis zu bezahlen, egal, ob sie persönlich schuldig geworden waren oder nicht. Die Vertriebenen waren Hitlers letzte Opfer.
Bürgermeister und örtliche Kommissionen hatten zu entscheiden, wer Vertriebene aufnehmen musste. Mancher Kommunalbeamte sparte Freunde und Verwandte bei der Zuweisung aus, einige versuchten mit Tricks, Fremde fernzuhalten. So berichtete der Landrat des Rheingaukreises, Peter Paul Nahm, im April 1946 von einem Vorfall in Kiedrich: »Obwohl jemand 18 freie Zimmer hat, stellt er den Antrag, die Wohnräume unter Denkmalschutz zu nehmen, um so der Einweisung von Ostflüchtlingen zu entgehen.« Für die Alteingesessenen waren sie bestenfalls Exoten. Die Neuankömmlinge brachten die hergebrachten Sitten und Strukturen durcheinander. Plötzlich wurden bislang rein evangelische Landstriche von katholischen Schlesiern und Sudetendeutschen bevölkert oder katholische Gegenden von protestantischen Pommern und Ostpreußen durchmischt. Die Städter aus dem Osten fanden in Städten des Westens schon aufgrund von 4,3 Millionen von Bomben zerstörten Wohnungen meist keinen Platz. Also mussten auch sie sich größtenteils auf dem Dorf durchschlagen, wo man ihnen oft besonders engstirnig begegnete. Sie hatten sich nicht aussuchen können, wohin sie kamen. Die Alliierten hatten sich auf bestimmte Kontingente für ihre Besatzungszonen geeinigt und brachten die Vertriebenen dort unter, wo noch Kapazitäten vorhanden schienen.
Deutsche Flüchtlinge in Danzig 1945
Damit sich die Vertriebenen nicht zusammenrotteten und womöglich Unruhe schürten, waren die Besatzungsmächte auch darauf bedacht, die Neuankömmlinge nicht in geschlossenen Gruppen, sondern weit verstreut anzusiedeln. So sollten soziale Kontakte untereinander verhindert und eine rasche Verschmelzung mit den Einheimischen erzwungen werden. Besonders grotesk war der Fall von 2000 Vertriebenen aus einer donauschwäbischen Gemeinde, die auf 158 Ortschaften der westlichen Besatzungszonen verteilt wurden.
Ausnahmen, wo alle zusammenbleiben durften, gab es nur in einigen wenigen Vertriebenengemeinden. Sie entstanden meistens aus Flüchtlingslagern, etwa Neugablonz als Stadtteil von Kaufbeuren im Allgäu, wo sich Glasschmuckhersteller aus dem nordböhmischen Gablonz niederließen, oder Espelkamp in Nordrhein-Westfalen.
Nicht nur der schon an der NS-»Volksforschung« beteiligte Vertriebenensoziologe Max Hildebert Boehm beklagte diese »vollkommene Zerstückelung, Zerstreuung und Zerstörung der ostdeutschen Volkstumsgruppen«. Auch ein Linker wie
Günter Grass erklärte, man habe »die ostdeutschen Provinzen zweimal verloren«: zuerst territorial als Ergebnis des selbstverschuldeten Weltkriegs, dann aber auch kulturell durch die selbstverschuldeten Fehler der Nachkriegszeit. Man hätte, meint Grass, die Flüchtlinge nach 1945 zwar nicht in isolierten, aber doch »geschlossenen Wohngebieten« ansiedeln sollen, »um so das gemeinsame Geisteserbe« Ostdeutschlands bewahren zu können – nicht zuletzt die unterdessen »praktisch verlorenen Dialekte«; immerhin sei zum Beispiel Schlesisch »die Wiege der deutschen Barockliteratur« gewesen. Grass: »Es ist auch ein Stück Kultur verloren gegangen, und zwar unwiederbringlich.«
Die Militärbehörden verhängten über die Vertriebenen zudem ein absolutes Koalitionsverbot – aufgelöst wurden sogar Selbsthilfeorganisationen wie die »Südostdeutsche Hilfsstelle«.
Erst im April 1949 durfte ein »Zentralverband der vertriebenen Deutschen« (ZvD) als Zusammenschluss der auf Länderebene bereits gegründeten Landsmannschaften geschaffen werden. Seit Anfang der fünfziger Jahre firmierte der ZvD als »Bund der vertriebenen
Weitere Kostenlose Bücher