Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
Josef dafür bedankte, dass er 65 Jahre lang das Grab ihres Neffen gepflegt hat, inmitten seines Gemüsegartens. Das er im Winter mit Tannenzweigen schmückte und zu Allerseelen mit einem Grablicht, obwohl die Nachbarn immer sagten: Mensch, Josef, mach doch das Grab weg, nach all den Jahren! Aber Josef hatte immer nur gesagt: Neji. Warr doch auch ejin Mensch.
Dann erzählt meine Tante noch davon, dass sie schon Weihnachtsplätzchen gebacken habe, zur Probe, Hefeplätzchen und Spritzgebäck, und Josef fragt: Nu, wann kommst wieder, Pejitrra? Und ich sage: Bald. Im Sommer.
Heikle Kapitel
In wenigen Jahren sollen deutsche und polnische Schüler aus einem gemeinsamen Geschichtsbuch lernen. Das erinnerungspolitische Tauwetter währt erst seit kurzem.
Von Jan Friedmann
Die Präsentation am 1. Dezember 2010 in Warschau war nach allen Regeln der Diplomatie geplant: Zwei Jahre lang hatten deutsche und polnische Experten den wichtigen Termin vorbereitet.
Wissenschaftler-Gespanne aus beiden Ländern erarbeiteten die Kapitel, die dann streng paritätisch besetzte Gremien absegneten. Die zwischen den beteiligten Ministerien sorgsam austarierten warmen Grußworte kamen von der polnischen Bildungsministerin Katarzyna Hall und der Staatsministerin im deutschen Auswärtigen Amt, Cornelia Pieper. Alles schön ausgewogen, um ja keinen Fehler zu machen.
Es ging um einen der heikelsten Gegenstände im deutsch-polnischen Verhältnis: ein Schulbuch. Genauer gesagt um Empfehlungen für ein Schulbuch. Der Termin war ein Erfolg. Und so wird immer wahrscheinlicher, dass sich im Geschichtsunterricht des polnischen Gimnazjums und der deutschen Sekundarstufe I bald Revolutionäres ereignen wird. Dort sollen Jungen und Mädchen künftig in Deutschland wie in Polen aus einem Buch lernen können, das zwar in beide Sprachen übersetzt, aber ansonsten völlig textgleich den historischen Stoff abhandelt, von Mesopotamien bis über die Terroranschläge des 11. September 2001 hinaus.
Das Einvernehmen ist deshalb bemerkenswert, weil sich in der langen Zeitspanne zwischen Zweistromland und al-Qaida mehrere historische Episoden finden, die für Polen, Deutsche oder für beide gleichermaßen sensibel sind. Dazu zählen vor allem der deutsche Überfall auf Polen im Zweiten Weltkrieg und die spätere Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten, aber auch weiter zurückliegende Epochen wie die Präsenz des deutschen Ritterordens jenseits der Oder.
Dass ein Schulbuch brisant sein kann, verwundert dabei nur auf den ersten Blick. Schließlich sei, so analysieren die deutschen Historiker Jörg-Dieter Gauger und Günter Buchstab, »die Schule der einzige Ort in jeder Gesellschaft, dem bekanntlich keiner entkommt und in dem es um systematische Wissensvermittlung geht«. Insofern könnten »Schule und Unterricht, Lehrpläne und Schulbücher« immer auch als »Seismograf für den Stellenwert historischer Themen« gelten. Gemessen an früheren Ausschlägen scheint die Aufregung um das im Jahr 2007 von den beiden Außenministern angestoßene Vorhaben gering. »Natürlich streiten sich Historiker immer«, berichtet der wissenschaftliche Vorsitzende des Projekts auf deutscher Seite, der Hallenser Osteuropahistoriker Michael Müller. »Aber sie streiten sich nicht mehr entlang nationaler Konfliktfronten. Was sie trennt, sind zum Beispiel unterschiedliche methodische Schulen. Und diese Fronten laufen quer durch unsere nationalen Delegationen.«
Man wolle weg von der »nationalen Ursprungserzählung«, die Schüler sollten mit der Bedeutung »sub- oder übernationaler Gemeinschaften« konfrontiert werden, heißt es in dem 135 Seiten starken Entwurf. Die Debatten vergangener Jahre sollen durch ein »offenes Geschichtsbild« ersetzt werden. Beispielsweise kam es immer wieder zu Streit, weil sich polnische Vertreter dagegen wehrten, die erzwungene Flucht von Millionen
Deutschen als »Vertreibung« zu bezeichnen – sie wollten lieber von »Aussiedlung« sprechen. Misstrauen weckte in Polen später auch die Renaissance des Themas in Deutschland mit Günter Grass’ Buch »Im Krebsgang« und der Diskussion um eine deutsche Vertriebenendokumentation.
Wie heikel Geschichtsdarstellungen sein können, bekamen noch vor kurzem Schulbuchexperten beider Seiten zu spüren, die für Sachsen und die polnische Nachbar-Woiwodschaft Niederschlesien 2005 bis 2007 regionale Lehrerhandreichungen erarbeiteten.
Der Leitfaden mit dem Titel »Geschichte verstehen – Zukunft
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