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Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Großbongardt
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gestalten. Die deutsch-polnischen Beziehungen in den Jahren 1933 bis 1949« traute sich an die schwierigsten Kapitel heran und erntete prompt scharfe Kritik polnischer Historiker: Der deutsche Widerstand gegen Hitler werde überbewertet, der polnische dagegen kleingehalten, nicht einmal der Warschauer Aufstand werde gewürdigt. »Man bekommt den Eindruck, dass sich Polen der deutschen Terminologie angleichen musste«, sagte damals Boguslaw Kopka vom Institut für Nationales Gedenken in Warschau. Derlei Misstöne blieben den Machern des aktuellen Schulbuchvorhabens bislang erspart. »Der Versuch, aus den unterschiedlichen Perspektiven einen Mittelwert zu erstellen, wäre zum Scheitern verurteilt«, erläutert Robert Traba, der polnische Vorsitzende des Expertenrats fürs Schulbuchprojekt. Es gelte vielmehr, Verständnis dafür zu wecken, dass »europäische Geschichte aus verschiedenen nationalen Erinnerungen besteht«.
    Frieden und Einvernehmen auf allen Seiten also an der Schulbuchfront? Nicht ganz: Die Vertriebenenverbände und ihnen nahestehende Historiker stoßen sich an dem Status quo, wie er sich in den derzeit gültigen und den gerade geplanten Schulbüchern manifestiert. Der deutsche Osten,
beklagen sie, werde in der Schule marginalisiert und teilweise sogar verdrängt. »Deutsche Schulabgänger sind ostkundliche Analphabeten«, diagnostiziert etwa Jörg-Dieter Gauger, der an der Universität Bonn lehrt und für die unionsnahe Konrad-Adenauer-Stiftung publiziert. »Der historische deutsche Osten als solcher« mit seinen Kulturleistungen und historischen Verdiensten komme kaum vor. Gauger vermisst »Anzeichen des Bedauerns über den Verlust der Ostprovinzen« und bescheinigt den deutschen Schulbuchautoren eine »autoaggressive Einstellung«, mit der das polnisch-deutsche Verhältnis stets als »Opfer- und Leidensgeschichte« erzählt werde. Der Geschichtsprofessor bemängelt: »Die Vermittlung des Mittelalters an den Schulen scheint heute freilich eher den Islam im Blickpunkt zu haben, den Osten jedenfalls nicht; das hat offensichtlich zeitbezogene innenpolitische Gründe (›multikulti‹).«
    Ein fragwürdiger Standpunkt, denn an welche Vermittlungstradition soll stattdessen angeknüpft werden? Bis weit in die sechziger Jahre hinein dominierte nämlich das Leid der Vertriebenen die Texte in deutschen Schulbüchern – von Verdrängung des deutschen Ostens keine Spur, von ausgewogener Geschichtsschreibung allerdings auch nicht. Allzu kurz lag der Verlust der angestammten Heimat zurück, allzu präsent waren die Organisationen der Vertriebenen im politischen Leben der Bundesrepublik. Häufig fanden damals auch schlecht kaschierte Topoi deutschen Überlegenheitsgefühls Eingang in die Unterrichtsbücher. So hieß es in einem Schulbuch von 1952 über die Ostsiedlung: »Deutsche Kolonisten brachten fremden Völkern (Polen, Böhmen und Ungarn) den wertvollsten Teil ihrer Kultur.« Schleswig-Holstein griff noch 1959 zu völkischem Vokabular, um die Leistungen der Siedler zu würdigen: »Durch die gemeinsame Anstrengung aller deutschen Stände wird germanischer
Volksboden wiedergewonnen. Die östliche Landnahme führt zu einer Erweiterung des deutschen Stammesgefüges und weist Deutschland zu, das östliche Grenzland Europas zu sein.«
    In einem anderen Schulbuch von 1962 wird das christliche Abendland gen Osten erweitert: »Es wirkte also starkes westöstliches Kulturgefälle. Die Hebung dieser rückständigen Gebiete auf den kulturellen und wirtschaftlichen Stand des Abendlandes war damals nur mit Hilfe deutscher Zuwanderer möglich.« Wenig Ursachenforschung wurde hingegen betrieben, wenn es galt, die Motive für die Vertreibung der Deutschen zu ergründen. Für den Konflikt zwischen Deutschen und Tschechen ermittelte die Historikerin Frauke Wetzel beispielsweise: »Deutsche Schulbücher sehen das Hauptmotiv für die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten in dem Wunsch nach Rache.«
    1956 verfassten die Kultusminister eigene Empfehlungen zur Ostkunde. Danach seien via Klassenzimmer »das Bewusstsein von der deutschen Einheit und der Wille zur Wiedervereinigung« wachzuhalten sowie die »Leistung« des deutschen Ostens im »deutschen Geschichtsbewusstsein zu verankern«. Eine andere Richtlinie für den Erdkunde-Unterricht wollte in das Thema der »deutschen Großlandschaften« auch das »Problem der deutschen Ostgebiete« mit eingeschlossen sehen, auch war vom »dreigeteilten Deutschland« die Rede. In den

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