Die Diagnose: Thriller (German Edition)
die ganze Sache ohne mein Zutun passiert wäre, würde ich mir keine Vorwürfe machen. Ich sollte meine Beweggründe erforschen, doch das habe ich viele Male getan und bin zu keinem Ergebnis gekommen.
Jeder Job hat seine Regeln – Grenzen, die Missbrauch, ja selbst den Anschein von Missbrauch verhindern sollen. Sie werden einem so eingetrichtert, dass man nicht mehr überlegen muss, wenn man sich dieser Grenze nähert. Man weicht zurück wie ein Hund mit einem Telereizgerät, das einen elektrischen Impuls abgibt, wenn das Tier einen vergrabenen Draht überschreiten will. Ich habe Hunde dastehen und wie wild die Zähne fletschen sehen, ohne dass sie einen weiter verfolgen konnten. Ich denke, diese Grenze hatte ich überschritten, denn ich konnte mich nicht zurückhalten, und ich habe herausgefunden, was geschieht, wenn man sie übertritt. Heute bin ich vorsichtiger – achte penibel darauf, die Grenze nicht mehr zu überschreiten, ja, mich ihr nicht einmal mehr zu nähern. Ich halte mich in sicherer Entfernung und warne die, die an mir vorbeigehen, bleibe aber hinter dem Draht. Wenn wir alle innerhalb unserer Grenzen geblieben wären, wäre ich noch Psychiater im Episcopal und Harry wäre noch ein reicher Mann und sein Name stünde weiterhin auf einer Plakette.
Als ich Felix anrief, hob er fast beim ersten Klingeln ab, als hätte er meinen Anruf erwartet, und erhob auch keine Einwände. Wenn ich gründlicher nachgedacht hätte, wäre mir aufgegangen, dass das ein Zeichen war. Ich erzählte Felix von den Menschen, mit denen ich mich getroffen hatte, und was ich herausgefunden hatte, und er hörte schweigend zu.
»Haben Sie nachher schon was vor?«, war alles, was er fragte.
Felix’ Wohnung lag am Riverside Drive, am Ende einer Straße, die schräg von der West End Avenue abfiel. Es war ein ruhiger Fleck über dem Hudson, und als ich dort ankam, stand der Vollmond am Himmel. Die Gebäude von New Jersey waren in sein helles Licht getaucht, genau wie ein Tankschiff, das tief im Fluss lag und ein funkelndes Kielwasser hinter sich herzog. Hier war die Nacht weit weg vom Rauschen des Verkehrs auf der Schnellstraße. Eine Weile schaute ich auf den Riverside Park hinunter, genoss die Aussicht und überlegte, ob ich wieder nach Hause fahren sollte. Ich war weit gekommen, doch die Chance, endlich herauszufinden, was bei Seligman verborgen lag – nicht nur der finanzielle Betrug, sondern auch die zerbrochenen Beziehungen −, machte mir Angst.
Dann sah ich Felix. Er stand hundert Meter weiter, die Hände in den Taschen seines Trenchcoats. Er hatte mich noch nicht bemerkt, und ich ging auf ihn zu und wartete, dass er aufblickte, doch erst als ich auf etwa drei Meter an ihn herangekommen war, gab er zu erkennen, dass er mich gesehen hatte. In letzter Minute blickte er auf und nickte.
»Wollen wir reingehen?«, fragte er leise.
Wir überquerten die Straße zu dem Haus, in dem seine Wohnung lag, vorbei an einem Latino, der sich auf seinem Lieferfahrrad ohne Licht gegen die Fahrtrichtung die Straße hochkämpfte. Zum ersten Mal, seit wir uns kannten, schwieg Felix, und es war seltsam, als hätte er einen Schlaganfall gehabt und die Kontrolle über seinen Kehlkopf verloren. Als wir seine Wohnung betraten, die mir mit ihren schweren Möbeln und Vorhängen überladen und düster vorkam, hatte er immer noch kein Wort gesagt. Er warf seinen Mantel über einen Stuhl, ging in die Küche und holte eine Whiskeyflasche aus dem Schrank.
»Single Malt?«, fragte er freudlos, als wäre es Medizin.
Er schenkte zwei Gläser ein und führte mich ins Wohnzimmer, wo er sich in einem Sessel niederließ, ein Bein über der Armlehne. Ohne Mantel und in einem Pullover, der über seiner Cordhose hochgerutscht war, sah er dünner aus als beim letzten Mal, als wir uns in meiner Wohnung gesehen hatten. Ich fragte mich, ob er nicht anständig aß oder ob er seine Ernährung auf Alkohol umgestellt hatte. Ich erinnerte mich, dass ich mir kurz Sorgen um ihn gemacht hatte. Ich hatte zu viele Menschen gesehen, die ihre Ängste mit Alkohol besänftigten, dabei verstärkte der sie nur. Aber ich hatte Felix immer als so fähig betrachtet, so gut darin, sich in der Welt der Mächtigen zurechtzufinden, dass ich nicht allzu besorgt war. Ich betrachtete ihn nicht als jemanden, der Hilfe brauchte. Vielmehr hatte ich mich darauf verlassen, dass er mir helfen würde. Er hob sein Glas, und das Eis klimperte.
»Auf treue Diener«, toastete er.
»Ihre Familie ist
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