Die Diagnose: Thriller (German Edition)
wissen, sondern auch möglichst viel über das des Gegenübers. Genau deswegen war ich hier. Ich dachte daran, wie Harry an dem Tag am Strand über Greene gesprochen und dabei Sand aus einer Muschel gekratzt hatte. Ich kannte einen Typ, der in Europa für Rosenthal die Abteilung Außerbörsliches Eigenkapital geleitet hatte. Marcus Greene , hatte er gesagt.
Ich ging nach unten, wo die Computer standen, und suchte mir ein freies Terminal. Das Erste, was ich mir ansah, war die Website von Rosenthal & Co., wo ich in den alten Jahresberichten nach einer Biografie von Henderson suchte. Er hatte bei Rosenthal eine meteoritenhafte Karriere gemacht: In den Siebzigerjahren zu der Bank gekommen, war er aufgestiegen, bis er die Abteilung für festverzinsliche Wertpapiere geleitet hatte, und dann war er Vorstandsvorsitzender geworden. Dazwischen ein Job im Ausland: Vorsitzender von Rosenthal International, 1990 bis 1994. Henderson war Greenes Chef in London gewesen zu derselben Zeit, als Harry von Seligman dort hingeschickt worden war. Die City of London ist nicht besonders groß , dachte ich. Ein noch kleinerer und exklusiverer Club als die Wall Street . Es sah aus, als wären sie alle zu demselben Zweck dort gewesen – um sich im Ausland zu beweisen, bevor sie ruhmreich nach New York zurückkehrten.
Ich überflog alte Ausgaben von Euromoney , ob ich auf etwas stieß, was sie noch enger verband. Das Blatt war so etwas wie die Vanity Fair der Londoner Finanzwelt, mit bewundernden Interviews mit Bankern in seltsamen Ecken des Finanzmarkts, illustriert mit heroischen Fotos. Als ich über die Immobilienkrise Anfang der 1990er-Jahre las, kam mir einiges schon bekannt vor. Eine wahre Götzenverehrung brachte Euromoney für Vulture Funds − die nicht umsonst auch als Geierfonds bezeichnet wurden − auf, die in der durch die falsche Kreditvergabepolitik der Banken ausgelösten Krise besonders angezogen hatten. Damals war ich ein Teenager gewesen, und die einzige Krise, von der ich etwas mitbekommen hatte, war die Scheidung meiner Eltern gewesen. Doch selbst mir fiel in der Erzählung von geplatzten Blasen und Hypothekencrashs auf, dass die Geschichte sich wiederholte.
Ich fand zwei Artikel, in denen Greene zitiert wurde, darunter einen Bericht über den Canary-Wharf-Bankrott, in den Rosenthal wie fast alle anderen Banken, von denen ich je etwas gehört hatte, verwickelt gewesen war. Später dann wurden die Dinge fröhlicher, es war von Erholung die Rede und dem Abschreiben lateinamerikanischer Schulden. Es gab einige Aufregung um den neuen Kreditderivatemarkt in London.
Bald langweilte ich mich und blätterte durch Fotos von Bankern in schwarzen Krawatten, die bei lächerlichen Preisverleihungen Preise bekamen – Bank des Jahres, beste vermögensgesicherte Aktienauflegung des Jahres. Ich sah den jüngeren Henderson, wie er Hände schüttelte oder in einer Gruppe Banker stand, ein selbstgefälliges Lächeln auf den Lippen, die Haare mit Grau durchsetzt. Als ich mich weiter durch die Seiten klickte, stieß ich auf ein Foto einer anderen Preisverleihung, bei der Rosenthal und Seligman gemeinsam geehrt worden waren. Links standen Henderson und Greene und ihre Leute, rechts die Seligman-Mannschaft, angeführt von Harry. Harry war kaum wiederzuerkennen, nicht nur, weil er auf dem Foto jünger war, sondern auch wegen der Freude, die er ausstrahlte – man sah, dass dieser dämliche Preis ihm sehr viel bedeutet hatte.
Und ganz in Harrys Nähe, direkt neben Henderson, stand, mit dunklem Haar und um einiges jünger, doch unverkennbar – Felix.
Wenn ich im Nachhinein auf die Fehler zurückblicke, die ich gemacht habe – wie sehr ich mich in Harry getäuscht hatte, als er in die Notaufnahme kam, wie ich mühelos in die Welt des Wohlstands geglitten war –, werde ich doch das, was ich als Nächstes tat, stets am meisten bereuen. Primum non nocere , brachte man uns an der medizinischen Fakultät bei: Zuerst einmal nicht schaden. Selbst in der Psychiatrie, wo es keine so offensichtlichen Fehler gibt wie in der Chirurgie − wo ein Arzt schon mal die falsche Stelle am Körper aufschneidet oder einen Patienten verbluten lässt −, gibt es Dinge, die gefährlich sind.
Das Schlimmste ist es, einen Patienten über seine Grenzen zu treiben, ihn mit etwas Schmerzlichem zu konfrontieren, mit dem er nicht klarkommt. Ich weiß nicht, ob es eine Rolle spielte – vielleicht liefen die Ereignisse da eh schon unerbittlich auf ihr Ende zu. Doch wenn
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