Die Diagnose: Thriller (German Edition)
nicht mehr sehen würden. Sie hatten keine Kinder, also war die Scheidung relativ problemlos über die Bühne gegangen.
Ich hatte die Hochzeit toll gefunden. Rebecca hatte mir geholfen, den Anzug bei Bloomingdale’s auszusuchen, und war mit mir nach London geflogen. Die Zeremonie fand in einer uralten kleinen Kirche in der City of London statt, mit einer Skulptur von Henry Moore − einem riesigen weißen Steinblock − als Altar in der Mitte, und der Chor hatte auf Latein gesungen. Mein Vater hatte sich benommen und Jane bemerkenswerterweise ebenfalls. Rebecca und ich waren am Sonntag durch das West End und den Hyde Park spaziert. Ich erinnerte mich, wie ich mit ihr unweit des Serpentine im Gras gelegen und das Gefühl gehabt hatte, aller Sorgen frei zu sein.
Diese Situation hier war bei Weitem nicht so angenehm, und die Umgebung war um einiges düsterer. Ich saß in einem Zeugenstand in einem schlecht beleuchteten, fensterlosen Raum im Riverhead-Gerichtsgebäude, vor mir eine Grand Jury. Die wenigsten Mitglieder hatten sich die Mühe gemacht, sich in Schale zu werfen. Die Männer trugen legere Hosen und Sweatshirts, bis auf zwei Typen mittleren Alters in Jacketts, die Frauen waren kaum besser gekleidet. Sie schienen die Sache nicht so ernst zu nehmen wie ich, aber für sie stand auch nicht so viel auf dem Spiel. Die meisten wirkten gelangweilt, und ein Mann hinten gähnte schon, obwohl es erst halb elf am Vormittag war. Man sollte doch meinen, der Fall Shapiro wäre aufregender als manche Routinesachen, doch dem schien nicht so zu sein.
Die einzigen anderen Menschen im Raum waren eine Protokollführerin und Baer, die gemütlich in einer anderen Nische saßen. Er kramte in seinen Unterlagen, und sie strich über die Tasten ihres Stenografs. Die dreiundzwanzig Mitglieder der Jury hatten in zwei schiefen Stuhlreihen Platz genommen, als wäre dies hier ein experimentelles Off-Broadway-Theater.
Joe hatte mich ein letztes Mal instruiert, wie das Ganze ablief, und mich gedrängt, nicht zu viel zu sagen und die Fragen nur kurz und knapp zu beantworten. Jetzt stand er sich im Flur die Beine in den Bauch. Pagonis hatte recht gehabt, er durfte nicht mit rein. Hier war kein Richter, der Baer unterbrechen konnte, der uns in gewohnt würdevollem Schritt zum Geschworenenzimmer geführt hatte. Joes Ermahnung, um eine Unterbrechung zu bitten und nach draußen zu kommen, um mich mit ihm zu besprechen, wenn ich mir Sorgen machte, war mir ein magerer Trost.
Als ich Joe angerufen hatte, um ihm zu berichten, dass Pagonis mir die Vorladung vorbeigebracht hatte, hatte er finster geklungen, doch wenig überrascht − wie ein Mann, der nicht enttäuscht wurde vom Lauf der Dinge, weil er immer das Schlimmste befürchtete. »Ich wollte Sie nicht unnötig beunruhigen, aber ich dachte mir schon, dass er das tun würde. Wir müssen reden«, hatte er gesagt.
Am nächsten Tag hatte er mir in seinem Büro erklärt, wie es funktionierte. Grand Jurys wurden hauptsächlich einberufen, um Verdächtige vor Gericht zu bringen und anzuklagen. Sie hörten sich an, was die Staatsanwaltschaft an vorläufigen Beweisen präsentierte, und winkten den Anklagebeschluss durch. Die harte Arbeit zu beweisen, dass der Verdächtige das Verbrechen begangen hatte, kam erst später, beim richtigen Prozess. Doch die Grand Jury konnte sich auch mit einem Fall befassen, wenn die Staatsanwaltschaft einen unwilligen Zeugen hatte, den sie unter Eid befragen wollte. Das war hier der Fall, und sofern ich mich nicht auf mein Aussageverweigerungsrecht berief, musste ich aussagen.
»Sie haben Mr Shapiro zunächst in der psychiatrischen Notaufnahme im Episcopal behandelt, ist das richtig?«, fragte Baer.
Joe hatte mich instruiert, die Jury anzusehen und zu versuchen, teilnahmsvoll rüberzukommen, doch als ich aufblickte, fühlte ich mich nicht gerade ermutigt. Der Sprecher der Geschworenen, der mich vereidigt hatte, ein stämmiger Mann mit Goldkettchen, dessen Kinn unter einem gestutzten Bart hervorquoll, starrte mich an, als wäre ich ein Angeklagter und kein Zeuge.
»Mr Shapiro wurde von seiner Frau ins Krankenhaus gebracht. Ich habe ihn untersucht und ihm geraten, aus freien Stücken bei uns zu bleiben, was er dann auch getan hat.«
»Aus welchem Grund?«
»Ich ging davon aus, dass er eine Gefahr für sich selbst war − dass das Risiko eines Selbstmords bestand. Er zeigte eine Reihe von Symptomen einer Depression. Er hatte seinen Job verloren, und seine Frau machte
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