Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
wurde, sich vor allem für die Früherkennung zu begeistern, gilt die Suche nach stummen Krankheiten allgemein als Dienst an der Gesellschaft. Aber wie Sie wissen, ist diese Suche auch die Quelle für Überdiagnosen. Vielleicht hoffen Sie, dass Ihre Ärztin ein Gegengewicht zu all diesen Kräften bildet; aber auch sie ist wahrscheinlich im Netz gefangen.
Ärzte im Netz
Manche Ärzte profitieren sehr davon, wenn sie mehr diagnostizieren. Zu den Ärzten, die sich aus finanziellen Gründen dafür einsetzen, gehören jene, die hauptsächlich diagnostizieren (zum Beispiel Gastroenterologen, die Endoskopien vornehmen, und Kardiologen, die Herzkatheter einsetzen), sowie jene, die Untersuchungsräume und -geräte besitzen (zum Beispiel Radiologen, die Eigentümer von Tomografiezentren sind, und Allgemeinärzte, denen die notwendige Ausrüstung gehört, um Labortests, Belastungstests, Echokardiogramme und Knochendichteuntersuchungen vorzunehmen). Bei vielen Ärzten sind die finanziellen Motive jedoch minimal, falls sie überhaupt existieren.
Manche Ärzte sind wahre Gläubige, aber viele fragen sich, ob das Screening inzwischen die Grenzen der Vernunft überschritten hat. Einige wissen sehr wohl, dass die Früherkennung zwei Seiten hat. Deshalb treten viele Allgemeinärzte – die sich unmittelbar um Menschen kümmern, denen weitere Diagnosen drohen – nicht blindlings für Vorsorgeuntersuchungen ein und haben auch keine finanziellen Interessen in diesem Bereich. Sie legen sehr pragmatische, völlig verständliche (wenn auch unerwünschte) Berechnungen vor, wenn man sie fragt, ob weitere Diagnosen sinnvoll sind. Ein offensichtlicher Faktor ist der Weg des geringsten Widerstandes. Allgemeinärzte sind sehr beschäftigt. Einen Patienten zum Screening zu schicken ist einfach und kostet wenig Zeit; ein Gespräch darüber, ob die Untersuchung dem Patienten nützt, ist zeitaufwendig und setzt voraus, dass der Arzt das Problem der Überdiagnose erläutert. Ärzte nehmen einfach an, dass ihre Patienten sich gerne untersuchen lassen (weil es eine konkrete Maßnahme ist) und dass sehr wenige dagegen sind.
Ein anderes Argument der Ärzte, die Untersuchungen veranlassen, ist der Öffentlichkeit weniger bekannt: Wir wollen gute Noten bekommen. Krankenhäuser, Kliniken und andere Einrichtungen haben ein immer größeres Interesse daran, die Qualität der medizinischen Versorgung zu messen. An für sich ist diese Idee lobenswert; doch wie so oft steckt der Teufel im Detail. Es ist sehr schwierig, die Qualität der Patientenbetreuung objektiv zu messen. Es erfordert eine genaue Kenntnis der Krankheit, um die es geht – aber auch anderer Krankheiten, die der Patient vielleicht hat –, und der Wünsche des Patienten. Zudem müssen wir wissen, wie eine hervorragende Versorgung in der konkreten Situation aussieht. Deshalb haben wir Ärger mit diesem Messproblem. Im Vergleich dazu ist es einfach, die Menschen zu zählen, die geimpft oder untersucht wurden (ob das ein Kriterium für die Qualität darstellt, ist eine andere Frage). Darum legte man bei der Bewertung der medizinischen Versorgung (Noten für Ärzte und Krankenhäuser finden Sie heutzutage auch im Internet) von Anfang an großen Wert auf Vorsorgeuntersuchungen, wobei die Mammografie als eine der wichtigsten galt. Wir Ärzte wurden von medizinischen Fakultäten wegen unseres Wunsches, gute Noten zu erhalten, ausgesucht. Wenn wir mehr Patienten zum Screening schicken müssen, um bessere Noten zu bekommen, dann tun wir es.
Schließlich ist noch die Devise »Sicherheit geht vor« zu berücksichtigen. Wir Ärzte mögen Anwaltswitze. (Mein Lieblingswitz: Was haben wir, wenn zwei Anwälte bis über den Hals im Sand vergraben werden? Nicht genug Sand.) Aber in Wahrheit haben Ärzte Angst vor Rechtsanwälten. Ich vermute zwar, dass das vermeintliche Risiko, wegen eines Behandlungsfehlers angeklagt zu werden, viel größer ist als das reale Risiko; aber hier kommt es auf das gefühlte Risiko an. Es gibt juristische Sanktionen wegen versäumter Diagnosen, aber keine wegen zu vieler Diagnosen. Darum ist es nicht sehr schwierig zu entscheiden, welches die »sicherste« Strategie ist.
Der Albtraum Ihres Arztes
Würde man Ärzte fragen, warum sie immer mehr Diagnosen stellen, würden die meisten wohl die Rechtslage nennen. Die Aussicht, verklagt zu werden, ist wahrlich beängstigend. Vor etwa zehn Jahren wurde ein enger Freund von mir verklagt, weil er es angeblich versäumt hatte, einen
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