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Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Titel: Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. Gilbert Welch , Lisa M. Schwartz , Steven Woloshin
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holte, hustete oder sich auf die rechte Seite legte.
    Das hört sich nach Brustfellentzündung an. Wir wissen seit Jahren, dass diese bei jungen, gesunden Menschen in der Regel die Folge einer Virusinfektion ist. Früher hätten sich die meisten Ärzte mit dieser Verdachtsdiagnose begnügt und dem Patienten versichert, die Schmerzen würden bald verschwinden.
    So war es in der Tat. Am nächsten Tag ging es Michael gut. Aber sein Arzt hatte ihn an eine Radiologin überwiesen, und diese hatte auf dem Röntgenbild Anzeichen für eine Lungenentzündung gefunden. Michaels Hausarzt konnte das nicht glauben, denn Michael hatte keine Symptome einer Lungenentzündung: kein Fieber, keinen Husten, keine Kurzatmigkeit. Also veranlasste der Hausarzt eine Computertomografie. Erneut entdeckte die Radiologin Anzeichen für eine Lungenentzündung, und wieder war Michaels Hausarzt nicht überzeugt. Er bat die Radiologin, das Schichtbild noch einmal zu prüfen.
    Bei genauerer Untersuchung fand die Radiologin ein winziges Blutgerinnsel in einer der Arterien, die die Lungen versorgen. Vielleicht hatte es die Symptome verursacht, die inzwischen verschwunden waren. Dennoch, ein Blutklümpchen in den Lungen weckt die Aufmerksamkeit eines Arztes. Michael bekam sofort Heparin, ein Medikament, das die Blutgerinnung hemmt (wodurch Blutungen wahrscheinlicher werden). Man verfrachtete ihn in einen Krankenwagen, schloss ihn an einen Herzmonitor an, verabreichte ihm Sauerstoff und brachte ihn ins Krankenhaus.
    Michael bekam allmählich Angst. Die Ärzte im Krankenhaus fanden keinen naheliegenden Grund für ein Blutgerinnsel. Aber sie erwähnten, dass ein versteckter Tumor bisweilen Blutgerinnsel verursacht. Jetzt ging es Michael noch schlechter.
    Er ließ eine ganze Reihe von Untersuchungen auf Krebs über sich ergehen – Bluttests, CTs und eine Koloskopie. Während er in einem Krankenbett auf die Ergebnisse wartete, rasten seine Gedanken, und er spielte im Geiste die schlimmsten Szenarios durch: Was ist, wenn ein Tumor das Gerinnsel verursachte? Werde ich sterben? Was wird dann aus meiner Frau und den Kindern?
    Michaels Angst vor Krebs wuchs; aber man fand keinen. Dennoch bekam er einen Termin bei einem Hämatologen. Dieser riet ihm, sein Leben lang Blutverdünner einzunehmen. Dadurch steige zwar das Risiko einer Blutung, aber das Medikament werde weitere Blutgerinnsel verhindern. Zum Glück war das nicht das Ende der Geschichte. Ein kluger Lungenspezialist hielt das alles für abwegig. Er erklärte Michael, dass moderne Scanner bei vielen Gesunden kleine Gerinnsel aufspüren. Bei ihm habe ein solches Blutklümpchen zufällig das Brustfell gereizt. Der Arzt meinte, die Gefahr eines gefährlichen Gerinnsels sei bei Michael äußerst gering und der Rat, lebenslang Blutverdünner einzunehmen, sei zu drastisch. Er empfahl Michael, das Medikament abzusetzen und einfach weiterzuleben.
    Genau das tat Michael, und es geht ihm körperlich sehr gut. Doch obwohl er weiß, dass sein Risiko, an Krebs zu erkranken, durchschnittlich ist (vielleicht geringer, weil kaum eine familiäre Belastung vorliegt), plagt ihn immer noch der Gedanke, er habe vielleicht doch Krebs. Er wacht nachts auf und grübelt. Im Grunde hat er seit diesem Erlebnis eine Krebsphobie, so stark, dass er einen Psychologen konsultieren musste. Michael und seine Ärzte glauben, dass diese Phobie zu seiner neusten Diagnose geführt hat: chronisches Schmerzsyndrom des Beckens – eine andauernde Verspannung der Beckenbodenmuskeln löste Schmerzen im Beckenbereich, in den Lenden und in den Genitalien sowie Prostatitis-Symptome aus (obwohl keine Prostatainfektion oder -entzündung vorlag). Das kann einen Menschen entkräften. Und weil die Schmerzen sich auf das Becken konzentrieren, fürchtet er sich nun vor Prostatakrebs.
    Ein winziges Blutgerinnsel in den Lungen, das nur einen Tag lang schmerzte, hat also eine Krebsphobie ausgelöst, die ihrerseits chronische Beckenschmerzen hervorrief. Und wegen der damit verbundenen Symptome hat Michael jetzt Angst vor Prostatakrebs. Er fragt sich oft, ob es nicht besser gewesen wäre, nie zu einem Arzt zu gehen.
    Das Streben nach diagnostischer Gewissheit kann reale Folgen haben. Ich habe oft über diese Geschichte nachgedacht, seitdem Michael sie mir erzählt hat. Wo liegt der Fehler? Warum wurde eine CT gemacht? Warum hörte der Arzt nicht auf, obwohl es seinem Patienten gut ging? Vielleicht fürchtete er sich vor Rechtsanwälten; aber ich bezweifle es.

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