Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
einen großen Teil dieser Kritik. Sie sind auf jeden Fall ein Problem, aber ich lege Wert auf die Feststellung, dass sie bei Weitem nicht das einzige Problem sind. Die größere Wahrheit lautet: Wenn mehr Diagnosen gestellt und neue Patienten geschaffen werden, profitiert der gesamte medizinisch-industrielle Komplex davon, nicht nur die Pharmabranche, sondern auch die Hersteller von diagnostischen und medizinischen Geräten, unabhängige Diagnosezentren, chirurgische Zentren, Krankenhäuser und sogar Universitätskliniken.
Nehmen wir das Screening als Beispiel. Es kann für Krankenhäuser ein wunderbarer Lockvogel sein. Lockvogelangebote sind Produkte, die ein Anbieter bewusst unterhalb des Herstellungspreises verkauft, um andere, profitable Verkäufe in der Zukunft anzukurbeln. In Supermärkten ist dies gang und gäbe, und Krankenhäuser versuchen es immer häufiger. Die Idee ist einfach: Wenn Krankenhäuser Vorsorgeuntersuchungen zu stark reduzierten Preisen oder, besser noch, kostenlos anbieten, gewinnen sie neue Patienten und verdienen an den nachfolgenden Behandlungen. Kaum zu glauben? Ich verweise an Dr. Otis Brawley, einen Onkologen und Epidemiologen, der heute leitender medizinischer Direktor der Amerikanischen Krebsgesellschaft ist. Vorher arbeitete er im Nationalen Krebsinstitut und war Direktor des Krebszentrums von Georgia in Emory. Dort kommentierte er im Mai 2003 in einem Interview mit Maryann Napoli die »kostenlose« Vorsorgeuntersuchung auf Prostatakrebs (Emorys Lockvogel): 6
Wenn wir am kommenden Samstag in der North Lake Mall [einem Einkaufszentrum] tausend Männer untersuchen würden, könnten wir Medicare und den Krankenversicherungen nach unserer Schätzung 4,9 Millionen Dollar (für Biopsien, Tests, Prostataoperationen usw.) berechnen. Aber das große Geld machen wir später – wenn die Ehefrau in den nächsten drei Jahren medizinische Dienstleistungen in Anspruch nimmt, weil wir ihren Mann behandeln, und wenn er wegen Brustschmerzen in die Notaufnahme kommt, weil wir ihn vor drei Jahren untersucht haben. (…)
In Emory machen wir keine Vorsorgeuntersuchungen mehr, seit ich das Krebsbekämpfungsprogramm leite. Es störte mich allerdings, dass meine PR- und Finanzberater mir zwar sagen konnten, wie viel Geld uns das Screening einbringen würde, dass mir aber niemand sagen konnte, ob wir einem einzigen Menschen das Leben retten könnten. Tatsache ist, dass wir hätten schätzen können, wie viele Männer wir impotent machen würden … aber wir taten es nicht. Das ist ein großes ethisches Problem.
Er hat recht. Es ist ein großes ethisches Problem. Darum mache ich mir so große Sorgen wegen des korrumpierenden Einflusses der kommerzialisierten Medizin. 7
Überzeugungstäter
Menschen, die Profit machen wollen, treiben den Trend zu immer mehr Diagnosen aus egoistischen Gründen voran. Überzeugungstäter treiben ihn aus selbstlosen Gründen voran. Sie glauben aufrichtig, dass mehr Diagnosen der Weg zu besserer Gesundheit für Individuen und für die Gesellschaft sind. Vor allem die Früherkennung ist für sie ein Allheilmittel. Ihrer Meinung nach kann sie fortgeschrittene, symptomatische Krankheiten verhindern. Und sie träumen von einem zweiten Vorteil der Früherkennung: Wenn wir die Kosten für die Behandlung von fortgeschrittenen, symptomatischen Krankheiten einsparen, steht unserem klammen Gesundheitssystem mehr Geld zur Verfügung.
Es gibt viele einflussreiche Überzeugungstäter: Politiker, Entscheidungsträger, Vertreter der Nachrichten- und Unterhaltungsmedien, Medizinforscher, ärztliche Leiter und Leiter von Selbsthilfegruppen, die für eine bessere Medizin oder für Kranke eintreten. Einige von ihnen verstehen im Großen und Ganzen die Probleme, die ich in diesem Buch erörtere. Sie sind sich über die Nachteile der Überdiagnosen völlig im Klaren, neigen aber dazu, die negativen Folgen für die Menschen zu unterschätzen. Stattdessen verfolgen sie nur ein einziges Ziel: alles zu tun, um fortgeschrittene Krankheiten zu verhindern, selbst wenn dabei einigen Menschen Schaden zugefügt wird. Die meisten Überzeugungstäter zweifeln nicht an der gängigen Lehre, dass Früherkennung stets besser ist. Vielleicht wurden viele von ihnen durch eigene Erfahrungen umgestimmt. Ärzte sind möglicherweise der Meinung, dass das Leben einiger ihrer Patienten durch Screening gerettet wurde, oder sie sind davon überzeugt, dass bestimmte Patienten mit fortgeschrittenen Krankheiten ihrem
Weitere Kostenlose Bücher