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Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Titel: Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. Gilbert Welch , Lisa M. Schwartz , Steven Woloshin
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Prostatakrebs zu diagnostizieren. Der Kläger war ein Mann im mittleren Alter, der zweimal wegen einer Routineuntersuchung bei Joel gewesen war. Joel hatte ihn gefragt, ob er Beschwerden habe. Er sagte, es gehe ihm gut. Joel maß seinen Blutdruck und horchte seine Lungen ab. Beide waren normal. Er tastete nicht nur die Prostata durch den Mastdarm ab, sondern auch die Mastdarmwand (ebenfalls ein möglicher Krebsherd). Wie viele Männer in seinem Alter hatte auch dieser Patient eine vergrößerte, aber ansonsten normale Prostata. Beim ersten Besuch überwies Joel ihn außerdem an einen Facharzt, der eine Sigmoidoskopie vornahm, eine der Vorsorgeuntersuchungen auf Kolorektalkrebs. Auch diese blieb ohne Befund.
    Sechs Monate später hatte der Patient Schwierigkeiten beim Wasserlassen. Wenn er ins Bad ging, fiel es ihm sehr schwer, mit dem Urinieren zu beginnen. Er suchte einen Urologen auf, der die Rektaluntersuchung wiederholte und die Prostata abtastete. Er spürte eine Geschwulst. Der PSA-Wert war sehr hoch, was darauf hindeutete, dass der Patient einen Tumor hatte, der sich über die Prostata hinaus ausgebreitet hatte. Als der Urologe hörte, dass der Patient zuvor bei Joel gewesen war, sagte er zu ihm: »Wenn Ihr Arzt vor sechs Monaten einen PSA-Test gemacht hätte, dann hätte er Ihnen das Leben gerettet.«
    Auf die Gefahr hin, wie das Stereotyp eines Arztes zu klingen, der seinen Freund und seinen Beruf verteidigt, halte ich diese Aussage für unerhört. Unterziehen wir sie einmal einer Prüfung. Der wichtigste Punkt ist: Als die Diagnose gestellt wurde, gab es keinen Beweis dafür, dass ein PSA das Leben des Patienten gerettet hätte. Niemand sollte behaupten, jemandes Leben wäre gerettet worden, ohne Anhaltspunkte dafür zu haben, dass die Strategie der Früherkennung tatsächlich sinnvoll ist. Doch selbst wenn bewiesen wäre, dass PSA-Tests manche Prostatakarzinome rechtzeitig genug entdecken, um einige Menschenleben zu retten, wäre die Aussage des Urologen unverschämt. Sie unterstellt viel zu viel. Wenn der PSA-Test seinen Zweck erfüllt, kann es sein, dass er einen tödlichen Krebs sechs Monate früher aufgespürt hätte, als er besser behandelbar war. Aber es ist auch möglich, dass der Test diesem Patienten nichts genützt hätte. Vielleicht war das Karzinom vor sechs Monaten noch gar nicht da. Dann hätte kein Test irgendetwas entdeckt. Genau das kommt bei vielen schnell wachsenden, aggressiven Tumoren vor. Manche von ihnen sind sehr widerstandsfähig gegen eine Therapie, andere bilden schon früh Metastasen, wieder andere sind einfach nicht therapierbar, weil sie lebenswichtigen Organen so nahe sind, dass man sie nicht entfernen kann, ohne den Patienten zu töten.
    Bei diesem Patienten hatte sich zweifellos ein sehr aggressiver Krebs entwickelt. Das ist schrecklich. Joel empfand Mitgefühl für den Mann. Uns allen geht es so, wenn einem Menschen ein solches Unglück widerfährt. Aber der Urologe verschlimmerte die Tragödie, als er einer immer beliebteren Geisteshaltung verfiel: Etwas Schlimmes ist geschehen, also muss jemand einen Fehler gemacht haben.
    Der Fall kam in einer Kleinstadt in Vermont vor Gericht. Experten für die Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung von der Universität des Staates Connecticut und von Harvard bestätigten, was wir damals wussten: dass Überdiagnosen ein echtes Problem waren und dass der Nutzen des PSA-Tests unbekannt war. Aber der örtliche Urologe erzählte den Geschworenen eine rührselige Geschichte: Dieser Arzt habe es versäumt, einen tödlichen Krebs zu diagnostizieren. Und auf der Bank saß ein realer Patient mit fortgeschrittenem Krebs, der noch schlimmer aussah, seitdem er an den Nebenwirkungen der Therapie litt. Es ging im Gerichtssaal recht theatralisch zu. Einmal erhob sich die Frau des Patienten, zeigte auf Joel und schrie: »Mörder!« Ich nehme an, das hatte der Anwalt ihres Mannes ihr geraten, so wie Joels Anwälte ihm geraten hatte, seine Frau und seine Tochter mitzubringen, um ihn menschlicher zu machen.
    Den Rest der Geschichte können Sie sich wahrscheinlich denken. Die Geschworenen gaben dem Kläger recht. Joels Anwälte waren davon überzeugt, dass das Berufungsgericht ein vernünftigeres Urteil sprechen würde, aber die Kosten dieses Verfahrens wären wahrscheinlich höher gewesen als der Schadenersatz, den das Gericht vorgeschlagen hatte. Also nahm Joel das Urteil an und zahlte. Es überrascht nicht, dass er seither mehr PSA-Tests durchführen

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