Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
lässt. (Wenn ein Arzt verklagt wird, weil er angeblich ein Prostatakarzinom übersehen hat, lassen nicht nur der betroffene Arzt, sondern auch seine Kollegen den PSA-Wert ihrer Patienten häufiger messen. Es gibt einige Studien, die das belegen. 13 ) Er überweist mehr Patienten an Urologen, und diese entdecken mehr Tumore. Einigen dieser Patienten wird vielleicht geholfen, aber viele leiden unter den Nebenwirkungen einer unnötigen Therapie.
Ich glaube, diese Erfahrung hat Joel verändert. Er will kein zweites Mal vor Gericht stehen. Er will sich nicht mehr vorwerfen lassen, er habe einen Test versäumt. Darum lässt er seine Patienten jetzt häufiger untersuchen. Das ist verständlich, denn bisher wurde noch kein Arzt wegen eines Tests verklagt. Es gibt viele gute Ärzte, die gerne das Richtige tun würden; doch Vorkommnisse wie dieses können selbst die Besten von ihnen beeinflussen. Ärzte machen gerne Rechtsanwälte für die Flut von diagnostischen Untersuchungen verantwortlich. Diese Ausrede sollten wir uns abgewöhnen.
Wenn die Politiker gegen Überdiagnosen vorgehen wollen, müssen sie sich dem Problem des asymmetrischen juristischen Risikos stellen: Wer zu wenig diagnostiziert, wird bestraft; wer zu viel diagnostiziert, wird nicht bestraft. Selbstverständlich kann man einen Arzt belangen, wenn er bei einem Patienten Krankheitssymptome beobachtet, aber keine Diagnose gestellt hat. Anders liegt der Fall jedoch, wenn ein Patient heute krank ist, aber vor einiger Zeit, als er einen Arzt besuchte, keine Symptome hatte. Alle Patienten waren im Verlauf einer Krankheit irgendwann symptomfrei, und die meisten waren auch in dieser Phase bei einem Arzt. Wenn »diagnostisches Versagen« auch in solchen Phasen möglich ist, könnte man es fast allen Ärzten vorwerfen. In vielen Fällen gibt es einfach keinen Beweis dafür, dass eine Vorsorgeuntersuchung das Fortschreiten einer Krankheit verhindern kann. Und selbst wenn es Beweise dafür gibt, dass sie einigen Menschen nützt, ist sie keine Hilfe für Patienten mit schnell wachsenden, aggressiven Tumoren, die zur Zeit der Untersuchung nicht diagnostizierbar waren oder die therapieresistent sind.
Trotz guter Untersuchungsmethoden können also Menschen, die untersucht wurden, an Krebs sterben. Die typischen Vorwürfe gegen Ärzte sind häufiger falsch als richtig. Das gilt sogar für die Mammografie, die am besten erforschte Vorsorgeuntersuchung. Von fünf Patientinnen, die unheilbar an metastasenbildendem Brustkrebs erkrankt sind, könnte nur eine mit Recht behaupten, ein Screening hätte sie gerettet. 14 Die Furcht der Ärzte, wegen eines Behandlungsfehlers verklagt zu werden, sollte kein Grund dafür sein, Gesunde häufiger zu untersuchen. Es ist in Ordnung, wenn Gesunde sich untersuchen lassen wollen, nachdem sie über die potenziellen Vor- und Nachteile informiert wurden. Man sollte Ärzte dazu verpflichten, Patienten über erwiesene Folgen einer Früherkennung zu unterrichten, aber man sollte ihnen nicht vorwerfen, sie hätten bei einem Patienten ohne Symptome eine Diagnose versäumt.
Der letzte Joker: Ungewissheit wird nicht geduldet
Ich habe von den gesellschaftlichen Kräften gesprochen, die zu Überdiagnosen führen. Aber es gibt noch ein Motiv, das uns über Anomalien stolpern lässt. Viele Ärzte lassen einen Patienten intensiv untersuchen, wenn er vage Symptome aufweist, die offenbar nicht auf eine Krankheit hindeuten. Manchmal steckt natürlich die Furcht, verklagt zu werden, hinter diesem Verhalten; aber sie ist nicht das Hauptmotiv. Oft geht es einfach darum, dass wir Ungewissheit nicht tolerieren. Wir hoffen, durch diagnostische Untersuchungen nachweisen zu können, dass dem Patienten nichts fehlt. Dadurch wollen wir ihn und uns beruhigen.
Leider kann es sein, dass wir beide Ziele verfehlen und stattdessen mehr Ungewissheit und Angst heraufbeschwören. Fragen Sie Michael, einen Reporter, der für ein Männermagazin arbeitet. Er kam zu mir, um über die Vorsorgeuntersuchung auf Prostatakrebs zu sprechen; aber dann erzählte er mir eine Geschichte über eine Diagnose, die nichts mit Prostatakrebs zu tun hatte (zumindest nicht am Anfang). Michael ist ein im Wesentlichen gesunder Mann in den Vierzigern. Er ging zum Arzt, weil er leichte Schmerzen in der rechten Seite des Rückens spürte. Aber er war nicht krank; er hatte weder Fieber noch Husten, noch Atembeschwerden, und sein Appetit war normal. Er hatte nur diese Schmerzen, aber nur, wenn er tief Luft
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