Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
Grad der Anomalie wurde nach unten verschoben – auf den Nutzen der Behandlung auswirkt. Meinem Lektor fiel auf, dass diese Abbildung fast so aussieht wie die im ersten Kapitel. Das stimmt natürlich. Aber genau das ist der Punkt. Die in der Abbildung dargestellte Beziehung gilt auch für die anderen Krankheiten in diesem Kapitel: Sie brauchen nur den »leichten Diabetes« und den »schweren Diabetes« an den Polen des Grades durch »fast normaler Cholesterinspiegel« und »sehr hoher Cholesterinspiegel« oder durch »leichte Osteoporose« und »schwere Osteoporose« zu ersetzen, und Sie verstehen, worum es geht.
In der Tat gilt diese Beziehung für jede medizinische Maßnahme. Wenn wir die Behandlung auf Menschen mit immer milderen Anomalien ausweiten, profitieren diese immer weniger davon. Die doppelte Darstellung ist also Absicht – ich möchte, dass Sie sich dieses Prinzip gut einprägen.
Abbildung 2.1 Die Wirkung der Regeländerung für Diabetes
Schwere Anomalien sind etwas anderes. So wie es gefährlich ist, Bluthochdruck zu haben, ist es auch gefährlich, einen wirklich hohen Blutzuckerspiegel zu haben. Beide wollen wir senken. Aber vergessen Sie nicht, dass ein zu niedriger Blutdruck ebenfalls gefährlich ist – fragen Sie Mr. Roberts.
Eine neue randomisierte Studie der National Institutes of Health (Nationale Gesundheitsinstitute) ist ein drastischer Beleg für das allgemeine Problem. 3 Die Forscher wollten herausfinden, ob eine deutliche Senkung des Blutzuckerspiegels das Risiko verringert, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden oder daran zu sterben. An der Studie beteiligten sich über zehntausend Diabetiker, deren Risiko hoch war. Etwa fünftausend wurden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und erhielten die Diabetes-Standardtherapie, die den Blutzucker zwar nicht normalisiert, aber auf ein eher akzeptables Niveau senkt. Die anderen fünftausend wurden intensiv behandelt; das heißt, man versuchte, ihren Blutzucker zu normalisieren. Die Hälfte dieser Patienten erreichte das Ziel: Ihr durchschnittlicher Blutzuckerspiegel sank unter 140. 4 Da dieser Durchschnitt auch Messungen unmittelbar nach dem Essen enthielt (die meist hohe Werte ergeben), dürfen wir davon ausgehen, dass der Nüchternblutzuckerspiegel erheblich niedriger war.
Die Studie begann 2003 und sollte bis 2009 dauern. Aber am 6. Februar 2008 veröffentlichte das nationale Herz- Blut- und Lungeninstitut eine Presseerklärung, in der es hieß, die intensive Therapie werde »aus Sicherheitsgründen geändert«. 5 Geändert war nicht das zutreffendste Wort; eingestellt wäre korrekter gewesen. Und die Sicherheitsgründe ergaben sich daraus, dass die Patienten, die eine intensive Therapie erhielten, häufiger starben als jene, die sich mit der Standardtherapie begnügen mussten. Nach drei Jahren waren 5 Prozent der Patienten mit Intensivtherapie gestorben, aber nur 4 Prozent der Patienten mit einer Standardtherapie. Das Sterberisiko war also um 25 Prozent gestiegen, und die Forscher waren davon überzeugt, dass es sich dabei nicht um ein statistisches Zufallsergebnis handelte. Es gab kaum einen Zweifel: Die Intensivbehandlung war schlimmer als die Standardbehandlung.
Vielleicht fragen Sie sich nun, warum die Normalisierung des Blutzuckers einen Patienten umbringen kann. Wahrscheinlich deshalb, weil wir den Blutzucker eines Patienten nicht einfach auf einen bestimmten Wert einstellen können; so präzise sind unsere Therapien nicht. Stattdessen springt der Blutzuckerspiegel hin und her, und wenn wir versuchen, ihn um den normalen Wert herumhüpfen zu lassen, springt er bisweilen zu tief. Und ein zu niedriger Blutzuckerspiegel erhöht das Sterberisiko. Die Forscher könnten einwenden, dass Hypoglykämie (ein niedriger Blutzuckerspiegel) nicht die Ursache des höheren Sterberisikos war. Aber sie räumen selbst ein, dass sie die erhöhte Sterblichkeit nicht erklären können. Im offiziellen Bericht schrieb der Hauptautor Hertzel C. Gerstein: »Trotz detaillierter Analyse ist es uns nicht gelungen, die genaue Ursache des erhöhten Sterberisikos in der Gruppe mit intensiver Blutzuckerstrategie zu finden … Unsere Analysen lassen vorläufig darauf schließen, dass kein bestimmtes Medikament oder eine Kombination von Medikamenten verantwortlich ist. Wir glauben, dass wahrscheinlich eine unbekannte Verbindung von Faktoren, die mit der gesamten medizinischen Strategie zu tun haben, im Spiel ist.« Meiner Ansicht nach hätten die
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