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Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Titel: Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. Gilbert Welch , Lisa M. Schwartz , Steven Woloshin
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Autoren, wenn die Sterblichkeit gesunken wäre, dies sofort der drastischen Senkung des Blutzuckerspiegels zugeschrieben (in diesem Fall mit Recht). Da die Studie jedoch eine erhöhte Sterblichkeit belegt, müssen wir diese Tatsache ebenfalls auf die Intensivtherapie zurückführen. Das ist schließlich der Sinn einer randomisierten Studie.
    Was sagt uns diese Studie über den Grenzwert, der die Diagnose »Diabetes« rechtfertig? Meine Antwort lautet: Wenn es nicht gut ist, den Blutzucker von Diabetikern fast zu normalisieren, dann ist es auch nicht gut, Menschen zu Diabetikern zu erklären, deren Blutzucker fast normal ist. Warum? Weil Ärzte sie dann behandeln. Bei Menschen mit leicht erhöhtem Blutzucker ist die Chance, von einer Behandlung zu profitieren, am geringsten – und das Risiko, Schaden zu erleiden, wohl am größten, so wie bei Mr. Roberts.
Nicht nur Diabetiker sind betroffen
    Hier geht es nicht nur um Diabetes. Die Neigung, den diagnostischen Grenzwert zu senken, besteht auch bei anderen häufigen Krankheiten, einschließlich Bluthochdruck. Vor 1997 haben viele Ärzte Menschen mit leichtem Bluthochdruck nicht behandelt. Obwohl das Joint National Committee on High Blood Pressure des amerikanischen Bundesgesundheitsministeriums empfahl, solche Menschen zu behandeln, räumte es ein, dass vernünftige Ärzte anderer Meinung sein könnten. »Wenn kein Zielorgan geschädigt ist (z. B. wenn kein Augen-, Nieren- oder Herzproblem vorliegt) und keine anderen wichtigen Risikofaktoren vorhanden sind, verzichten einige Ärzte möglicherweise auf eine Therapie mit blutdrucksenkenden Medikamenten.« Im Jahr 1997 schwenkte das Gremium jedoch um und empfahl dringend eine medikamentöse Therapie für alle Patienten mit leichtem Bluthochdruck, unabhängig von ihrem Risiko für Herzkrankheiten. 6
    In der Praxis bedeutete dieser Schritt eine Neudefinition des Bluthochdrucks, der eine pharmakologische Behandlung erforderte. Von nun an war eine Therapie bei einem diastolischen Blutdruck über 90 mmHg (anstatt 100) notwendig. Ein systolischer Blutdruck über 140 mmHg (anstatt 160) verlangte ebenfalls eine Behandlung (das entspricht den auch in Deutschland gültigen Werten der WHO für Bluthochdruck). Diese scheinbar kleine Veränderung hatte eine große Wirkung. Sie führte dazu, dass weitere dreizehn Millionen Amerikaner die Kriterien für eine Behandlung des Bluthochdrucks erfüllten. 7
    Das gleiche Muster wiederholte sich beim Cholesterin. Was ein »abnormer Cholesterinwert« ist, wurde seit meinem Examen so oft neu definiert, dass ich kaum noch mitkomme. Das Einzige, was konstant blieb, ist die Richtung der Änderungen – die Grenzwerte sanken immer tiefer. Unsere Bibel als Medizinstudenten war Harrison’s Principles of Internal Medicine (ich hatte die achte Auflage; inzwischen ist die siebzehnte auf dem Markt). Dieses Buch empfahl, nur Patienten mit einem Gesamtcholesterin über 300 zu behandeln.
    Bald wurde die Bestimmung des Cholesterinwertes schwieriger. Wir konnten verschiedene Arten von Cholesterin messen: Cholesterin mit niedriger Dichte (englisch low-density cholesterol oder LDL, das »schlechte Cholesterin«) und Cholesterin mit hoher Dichte ( high-density cholesterol oder HDL, das »gute Cholesterin«). Und nachdem das Cholesterin in Unterarten zergliedert worden war, konnten wir auch Verhältnisse berechnen: LDL zum HDL, LDL zum Gesamtcholesterin und so weiter. Dann wurden die Empfehlungen anhand der anderen Risikofaktoren für Herzkrankheiten (Rauchen, Bluthochdruck, frühere Herzinfarkte usw.) zurechtgetrimmt. Das war zum Teil sinnvoll – vor allem die aggressivere Therapie bei Patienten, die bereits Herzanfälle hinter sich hatten (sie profitieren am stärksten, wenn der Cholesterinspiegel gesenkt wird) –, aber die Folge war eine sehr komplexe Empfehlungsliste.
    Trotzdem hatten sich Mitte der neunziger Jahre große Organisationen des Gesundheitswesens (zum Beispiel das Veteranenministerium, für das ich arbeite) darauf geeinigt, dass ein Wert über 240 mg/dl für das Gesamtcholesterin als abnorm galt und eine Therapie erforderte (die Grenzwerte sind altersabhängig, für Personen über 40 gilt dieser Grenzwert auch in Deutschland). Aber 1998 änderte eine große randomisierte Studie die Situation. Diese Studie der Air Force / Texas Coronary Atherosclerosis Prevention belegte, dass die Zahl der »größeren akuten koronaren Erstzwischenfälle« (tödliche und nicht tödliche Herzinfarkte, unstabile

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