Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
anhand von Zahlen definiert, ändern Ärzte die Regeln. Werden Anomalien anhand der »Sehfähigkeit« der Ärzte definiert, ändern technische Apparate die Regeln. Aber das Endresultat ist das gleiche: mehr Diagnosen und mehr Patienten. Manchen wird vielleicht geholfen, andere werden Opfer von Überdiagnosen – das heißt, ihnen wird mitgeteilt, man habe bei ihnen eine Anomalie festgestellt; aber von dieser Anomalie ist nicht zu erwarten, dass sie sich verschlimmert, Symptome verursacht oder zum Tod führt.
Wir sehen zu viel
Während meines letzten Studienjahres hatte ich Gelegenheit, sowohl in hochtechnisierten akademisch-medizinischen Zentren (in San Francisco und Boston) als auch in technisch schlecht ausgestatteten ländlichen Krankenhäusern (in Alaska und Sambia) zu arbeiten. Das war eine prägende Erfahrung für mich. Der Sprung vom medizinischen Zentrum der University of California in San Francisco und dem Massachusetts General Hospital in Boston, die beide auf der Liste der besten Krankenhäuser des U.S. News & World Report stehen, zum Alaska Area Native Health Service und danach ins anglikanische Missionskrankenhaus in Katete, Sambia, zeigte mir, dass die Medizin unter verschiedenen Bedingungen sehr unterschiedlich praktiziert wird – teilweise beschränkt sie sich auf das, was möglich ist. Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass die modernste Technik immer überlegen ist. Verstehen Sie mich nicht falsch; manchmal konnten wir Patienten dank bildgebender Verfahren eindeutig besser versorgen; doch es war ebenso klar, dass diese Techniken bisweilen Verwirrung stifteten, die Behandlung verzögerten und den Patienten schadeten. Selbst technisch rückständige Krankenhäuser nutzten allerdings in gewissem Umfang bildgebende Verfahren – Röntgengeräte gibt es fast überall –, und ich lernte auch, dass sogar ein einfaches Röntgenbild mitunter zu viel sieht.
Nach dem Studium arbeitete ich als Assistenzarzt abwechselnd in der Pädiatrie, in der Chirurgie, in der Geburtshilfe und in der inneren Medizin. Danach bekam ich eine Stelle im öffentlichen Gesundheitsdienst der USA und wurde in Bethel, Alaska, an der Küste der Beringsee als Amtsarzt eingesetzt. Nach zwei Jahren in Alaska arbeitete ich an mehreren anderen Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes in den Kernstaaten der USA. Die eine war eine kleine Klinik mit drei Ärzten im Reservat Warm Springs in Zentral-Oregon. Im Wesentlichen leisteten wir die übliche Grundversorgung bei Bluthochdruck, Rückenschmerzen, kleinen Wunden, Geschlechtskrankheiten und natürlich Erkältungen. Viele Patienten klagten nicht nur über typische Symptome wie Halsschmerzen, Husten und laufende Nase, sondern auch über Nebenhöhlenbeschwerden. Diese Patienten schickten wir routinemäßig zum Röntgen. Ich war erstaunt (ehrlich gesagt auch frustriert) darüber, dass fast jede Aufnahme der Nebenhöhlen mit dem Vermerk »Sinusitis« zurückkam. Hatte wirklich jeder, der Schmerzen in den Nebenhöhlen spürte, eine Nebenhöhlenentzündung? Ich bat den Klinikdirektor, mir ein kleines Experiment zu erlauben – ich wollte meine Nebenhöhlen röntgen lassen. Er war einverstanden.
Ärzte, die sich röntgen lassen wollten, mussten ein Antragsformular ausfüllen. Ich fühlte mich wohl, trug aber in der Spalte »Grund des Antrags« ein, was ich in dieser Situation für einen Patienten eingetragen hätte: »33 Jahre alt, Nebenhöhlenschmerzen« (außerdem machte ich ein Kreuz im Kästchen »nicht schwanger«). Die Durchleuchtung war schnell, einfach und schmerzlos. Sechs Tage später erhielt ich die Stellungnahme des Radiologen (die Filme wurden in ein etwa achtzig Kilometer entferntes Krankenhaus gebracht, wo er arbeitete; er prüfte sie, versah sie mit einem Kommentar und schickte sie dann zurück). Er schrieb, auf dem Bild sei »eine eiförmige Schwärzung am unteren Rand der linken Oberkiefernebenhöhle zu sehen. Seine Schlussfolgerung? Es könnte sich durchaus um einen Polypen als Folge einer chronischen Oberkiefersinusitis handeln.« Wenn Ihnen nicht klar ist, was das bedeutet, machen Sie sich keine Sorgen – mir war es ebenfalls nicht klar. Aber es hörte sich nicht gut an.
Das war vor über zwanzig Jahren. Ich habe nie Nebenhöhlenbeschwerden gehabt, weder damals noch heute. Wenn ich tatsächlich einen Polypen habe, hat er mich kein einziges Mal belästigt. Offenbar war ich das Opfer einer Überdiagnose, und das auf der Grundlage eines schlichten
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