Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
gestiegen ist. 3 Wenn das stimmt, würde sich jedes Jahr etwa einer von fünf Amerikanern einer Computertomografie unterziehen (natürlich wird bei manchen Leuten mehr als eine Aufnahme gemacht).
Die zuverlässigsten Daten liefert das Medicare-Programm, weil es die CT-Aufnahmen fast aller Amerikaner ab fünfundsechzig aktenkundig macht (und bezahlt). Und die verstärkte Nutzung der Computer- und Magnetresonanztomografie (MRT) setzte sich lange nach ihrer Einführung fort. 4 Seit Anfang der neunziger Jahre hat sich die Zahl der CT-Aufnahmen des Kopfes pro Einwohner verdoppelt. Die Zahl der CT-Aufnahmen des Unterleibs hat sich verdreifacht, und die Zahl der CT-Aufnahmen des Brustkorbs hat sich verfünffacht. Die Magnetresonanztomografie (auch Kernspintomografie oder -untersuchung genannt) wird derzeit zwar seltener eingesetzt als die Computertomografie, aber die Zahl der MRT-Aufnahmen insgesamt steigt noch schneller: Gehirn-MRTs haben sich im gleichen Zeitraum vervierfacht, Wirbelsäulen-MRTs haben sich versechsfacht, und Hüft- und Knie-MRTs haben sich mehr als verzehnfacht.
Es besteht kein Zweifel: Wir scannen immer häufiger.
Ein riesiges Reservoir von Anomalien
Wenn wir mehr Anomalien finden, liegt das nicht nur daran, dass wir mehr scannen. Es muss ein Reservoir von Anomalien in der Bevölkerung geben, die wir mit solchen Tests entdecken können – Anomalien, von denen wir ansonsten nie erfahren hätten.
• Gallensteine: Rund 10 Prozent aller Menschen ohne Symptome einer Gallenblasenerkrankung (zum Beispiel Schmerzen, Übelkeit oder Probleme mit fetten Speisen) haben Gallensteine, wenn man sie mit Ultraschall untersucht. 5
• Beschädigte Knieknorpel: Bei etwa 40 Prozent aller Menschen ohne Knieschmerzen oder frühere Knieverletzungen sind durch eine MRT Meniskusschäden feststellbar. 6
• Bandscheibenvorfall: Bei über 50 Prozent aller Menschen ohne Rückenschmerzen sind durch eine MRT Bandscheibenvorwölbungen feststellbar. 7
Natürlich verschleiert diese knappe Übersicht einige wichtige Einzelheiten: Die Prozentsätze sind bei jüngeren Menschen niedriger und bei älteren höher (Gallensteine kommen bei jungen Frauen häufiger vor als bei jungen Männern). Beispielsweise werden nur bei 2 Prozent der Männer, die unter vierzig sind und keine Symptome haben, durch eine Ultraschalluntersuchung Gallensteine entdeckt, während 80 Prozent der über fünfzigjährigen Männer und Frauen ohne Symptome Bandscheibenschäden haben, wenn man eine MRT durchführt.
Selbst wenn Sie sich wohlfühlen, entdecken diese Scanner also eine Menge Anomalien bei Ihnen. Aber diese Anomalien lösen später nur selten Beschwerden aus. Moderne bildgebende Verfahren können zu vielen Überdiagnosen – und zu vielen unnötigen Gallenblasen-, Knie- und Rückenoperationen – führen.
Doch selbst wenn Sie tatsächlich Symptome haben, ist die Gefahr von Überdiagnosen durch bildgebende Verfahren beträchtlich. Angenommen, Sie haben Knieschmerzen, und eine MRT enthüllt einen Knorpelschaden – einen Riss im Meniskus. So wie es verführerisch sein mag zu behaupten, eine Sinusitis sei die Ursache von Nebenhöhlenbeschwerden, ist es auch sehr verführerisch, den Meniskusschaden für Ihre Schmerzen verantwortlich zu machen. Aber viele Menschen – immerhin 40 Prozent – ohne Knieschmerzen haben Meniskusrisse. Mit anderen Worten: Beschädigte Knorpel lösen oft keine Symptome aus. Es kann also durchaus sein, dass Ihr Meniskusschaden nicht die Ursache Ihrer Symptome ist, zumal es für Knieschmerzen noch viele andere Ursachen gibt: Arthritis, Sehnenentzündung und Muskelzerrungen, um nur einige zu nennen. Wenn der beschädigte Knorpel Ihre Symptome nicht verursacht, dann ist eine Diagnose, die das behauptet, eine Überdiagnose. Jetzt sehen Sie, warum Überdiagnosen ein Problem sind. Wenn ein Knorpelschaden die Ursache Ihrer Schmerzen ist, könnte eine arthroskopische Operation helfen; aber wenn Arthritis die Ursache ist, nützt ein solcher Eingriff überhaupt nichts und kann Ihnen sogar schaden. 8
1. Die Existenz eines großen Reservoirs von beschädigtem Knorpelgewebe bei Menschen ohne Symptome macht also den Befund »beschädigter Knorpel« bei Menschen mit Symptomen fragwürdig. Vielleicht ruft der beschädigte Knorpel die Symptome hervor – vielleicht aber nicht.
2. Für Ärzte ist es sehr schwierig zu beurteilen, ob eine Anomalie tatsächlich die Ursache eines Symptoms ist. Im New England Journal of Medicine beschrieb ein
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