Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
findet der Arzt genaue Definitionen jeder dieser Risikofaktoren, die er verstehen muss, bevor er die Patientin befragt. Dann spricht der Arzt mit der Patientin und trägt die Daten in das Rechenschema ein. Danach berechnet der Computer, wie groß die Gefahr ist, dass die Patientin in den nächsten zehn Jahren einen Hüftknochen bricht. 25 Ist diese Zahl größer als 3 Prozent, empfiehlt er eine Behandlung.
Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, weil genauer definiert wird, wessen Risiko hoch ist. Aber wir wissen nicht wirklich, ob diese Präzisierung etwas nützt; denn bisher gibt es keine speziellen Behandlungshinweise für Frauen, die andere Risikofaktoren in Verbindung mit einer fast normalen Knochendichte (zum Beispiel mit einem T-Wert von -1,0) aufweisen. Zudem sind die Empfehlungen so komplex – und derart zeitaufwendig –, dass viele Ärzte sich vermutlich weigern, jede Frau mit einem T-Wert unter -1,0 zu behandeln. Das beträfe fast jede ältere Frau. Und inzwischen gibt es schon Befürworter einer Therapie für Männer …
Kettenreaktion
Eine meiner Nachbarinnen hat eine Freundin, die außerhalb von New York City lebt. Lara kommt regelmäßig nach Vermont, um der Stadt zu entfliehen; darum habe ich sie im Laufe der Jahre kennengelernt. Sie ist eine gesunde, fünfundsechzigjährige Frau, der es dennoch gelungen ist, sich in zahlreiche Diagnosen und Therapien zu verstricken. Es begann, als sie vor fast zehn Jahren auf Osteoporose untersucht wurde. Der Knochenmineraldichtetest zeigte, dass ihr T-Wert -1,8 betrug. Das bezeichnet zwar (noch) niemand als Osteoporose, aber ihr Hausarzt meinte, bei ihr bestehe die Gefahr eines Knochenbruchs, obwohl keiner der oben genannten Risikofaktoren vorlag. (So gesehen sind alle Menschen Risikopatienten.) Zudem erklärte ihr der Arzt, die Behandlung sei einfach und wirksam.
Damals, berichtete sie mir, habe sie gedacht: »Warum nicht?« Also wurde mit einer Hormonersatztherapie begonnen, die nachweislich die Knochendichte steigert und die Bruchgefahr senkt. Sie vertrug das Medikament gut. Dann enthüllten große randomisierte Studien, dass die Hormonersatztherapie auch schädliche Nebenwirkungen hat: ein erhöhtes Herzinfarkt-, Schlaganfall- und Brustkrebsrisiko. Ihr Arzt riet ihr, das Medikament nicht mehr zu nehmen und stattdessen ein anderes Präparat gegen Osteoporose zu probieren.
Lara bekam ein Bisphosphonat, und eine Weile kam sie gut damit zurecht. Dann traten heftige Schmerzen beim Schlucken auf. Sie wurde an einen Gastroenterologen überwiesen, der mithilfe eines Endoskops (eines röhrenförmigen optischen Geräts, das in den Magen eingeführt wird) starke Entzündungen und Geschwüre in der Speiseröhre feststellte. Dies ist eine bekannte Nebenwirkung von Bisphosphonaten. Daraufhin bekam sie ein anderes Medikament. Die Speiseröhre heilte, aber sie bekam am ganzen Körper einen schmerzhaften Ausschlag. Also schickte man sie zu einem Dermatologen, der den Verdacht hatte, der Ausschlag werde vom Medikament verursacht. Dieses wurde abgesetzt, und der Ausschlag verschwand.
Lara war zu einer medizinischen Herausforderung geworden, weil die Ärzte nicht wussten, wie sie diese Frau behandeln sollten. Man überwies sie an einen Endokrinologen. Da Osteoporose als endokrine Krankheit gilt, hält man Endokrinologen für Experten, was die Therapie anbelangt. Der Endokrinologe war also genau der richtige Mann, um diese schwierige Patientin zu behandeln.
Vergessen Sie nicht, dass Lara gar nicht an Osteoporose litt. Schlimmstenfalls hatte sie Osteopenie (das kann man sich als Präosteoporose vorstellen). Zudem lagen bei ihr keine Risikofaktoren vor, die einen Knochenbruch wahrscheinlicher gemacht hätten. Der Facharzt hätte sich also die grundlegendste aller Fragen stellen sollen: Ist dies ein Zustand, der eine Behandlung erfordert? Laras T-Wert und das Fehlen anderer Risikofaktoren machten Knochenbrüche unwahrscheinlich. Folglich war der Nutzen einer Therapie bestenfalls gering.
Aber der Endokrinologe stellte diese Frage nicht. Er stellte sich der medizinischen Herausforderung und untersuchte alle Drüsen und Hormone gründlich. Als er die Schilddrüse abtastete, glaubte er, einen Knoten zu spüren. Er schickte Lara zu einem Radiologen, der mithilfe einer Ultraschalluntersuchung drei Knoten feststellte, von denen der größte einen Durchmesser von etwa zweieinhalb Zentimetern hatte. Man führte Nadeln in alle Knoten ein und entnahm ihnen ein wenig Flüssigkeit.
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