Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
Einige der Zellen in dieser Flüssigkeit sahen unter dem Mikroskop gefährlich aus. Der Pathologe befürchtete, dass es sich um ein Karzinom (Krebs) handelte; aber das konnte man nur mit Sicherheit feststellen, wenn die Schilddrüse entfernt wurde. Also wurde sie an einen Chirurgen überwiesen.
Stellen Sie sich das vor. Es geht Ihnen gut, aber jemand empfiehlt einen Test, um herauszufinden, wie stark Ihre Knochen sind. Der Test zeigt, dass die Knochendichte knapp unter dem Durchschnitt für Ihr Alter liegt. Dennoch behaupten die Ärzte, bei Ihnen bestehe ein Knochenbruchrisiko, und fordern Sie auf, etwas zu unternehmen. Drei Medikamente und drei Fachärzte später erfahren Sie, dass Sie vielleicht Schilddrüsenkrebs haben. Was für eine Flut von Ereignissen. Immerhin hat dieser Fall ein glückliches Ende. Der Chirurg – offenbar ein umsichtiger Mann – zog einen Schlussstrich. Er wusste, dass es bei fast allen Erwachsenen Anzeichen für Schilddrüsenkrebs gibt. Das Wichtigste ist, dass es Lara gut geht – ich habe sie kürzlich auf dem Fluss Connecticut in einem Kajak gesehen –, aber jetzt zögert sie noch etwas mehr, sich untersuchen zu lassen.
Ich weiß nicht, wie häufig Patienten derart mit Diagnosen und Therapien traktiert werden. Niemand führt darüber Buch. Aber ich kann Ihnen versichern, dass Laras Fall nicht besonders ungewöhnlich ist. Das ist ein weiterer Nachteil, wenn man zu früh für krank erklärt wird.
Es ist leicht, die Forderung aufzustellen, dass Regeln und Zahlen geändert werden müssen, um neu zu definieren, was als abnorm gilt. Man kann immer geltend machen, dass dadurch möglicherweise ein paar Menschen mehr geholfen wird. Meist ist die Diskussion an dieser Stelle zu Ende. Doch selbst kleine Änderungen können Millionen Menschen zu Patienten machen. Sie können zu einer Explosion von Überdiagnosen und somit zu einer Explosion von Behandlungen führen. Selbst wenn einige davon profitieren, sollten wir nicht zahlreiche Menschen leichtfertig für krank und behandlungsbedürftig erklären. Kleine Nachteile einer Therapie werden schon deshalb vergrößert, weil ihnen so viele Menschen ausgesetzt sind. Manche verstricken sich wie Lara in ein Gewirr aus Diagnosen und Therapien. Und wir alle müssen uns über eine paradoxe Strategie wundern, die Gesundheit fördern will, indem sie mehr Menschen dazu bringt, sich für krank zu halten.
Leider kann uns keine wissenschaftliche Methode oder mathematische Gleichung eine eindeutige Antwort auf die Frage geben, was wir als normal definieren sollen. Aber die Praxis zeigt, dass die Mediziner unablässig damit beschäftigt sind, diese Definition einzuengen. Das wird besonders offenkundig, wenn wir Ärzte die Regeln ändern. Doch dieser Prozess hat auch eine noch heimtückischere Seite: Manchmal ändert der technische Fortschritt die Regeln für uns.
Kapitel 3
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Wie apparative Untersuchungen Ihnen Gallensteine, Knorpelschäden im Knie, Bandscheibenvorwölbungen, Bauchaortenaneurysmen und Blutgerinnsel anhängen
Die Unterscheidung zwischen anormal und normal kann recht willkürlich sein. Sie hängt oft von einer einzigen Zahl ab, für die sich die Ärzte entschieden haben. Wenn Ihr Nüchternblutzucker 126 beträgt, haben Sie Diabetes, wenn er 125 beträgt, haben Sie keinen. Viele unserer Diagnosen basieren jedoch nicht auf Zahlen, sondern auf dem, was wir sehen. Früher hätte ich gesagt: was wir mit dem bloßen Auge sehen. Heute haben verschiedene bildgebende Verfahren die Situation drastisch verändert. Röntgenapparate, Ultraschallgeräte, Computertomografen (CTs), Positronen-Emissions-Tomografen (PETs) und Kernspintomografen (MRTs) sind wunderbare Geräte. Mithilfe von Strahlung, Schallwellen, Magnetfeldern und elektrischer Energie können diese Scanner anatomische Strukturen detailliert abbilden. Leistungsfähige Computer digitalisieren die Daten und ermöglichen dreidimensionale Rekonstruktionen der Bilder, die man vergrößern und drehen kann. So können Ärzte die Dimensionen anatomischer Strukturen, die Stoffwechselaktivität des Gewebes und die Durchblutung präzise messen. Und die Auflösung dieser Bilder wird jedes Jahr besser.
Bildgebende Verfahren helfen uns sehr, Anomalien zu finden, die Menschen krank machen. Aber sie sind auch immer häufiger in der Lage, Anomalien bei Menschen zu entdecken, denen es gut geht. Die Mechanismen sind anders als im vorigen Kapitel, das Problem ist das gleiche. Werden Anomalien
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