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Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Titel: Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. Gilbert Welch , Lisa M. Schwartz , Steven Woloshin
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Orthopäde vor Kurzem, wie er mit zweideutigen Befunden auf MRT-Aufnahmen des Knies umgeht. 9 Er erklärte, ein beschädigter Knorpel sei mit größerer Wahrscheinlichkeit die Ursache der Schmerzen (und der Patient profitiere daher mit größerer Wahrscheinlichkeit von einer Operation), wenn der Patient jünger sei, erst seit relativ kurzer Zeit (gemessen in Monaten, nicht in Jahren) Schmerzen habe und das erste Auftreten der Schmerzen eindeutig auf eine Verletzung zurückführen könne. Aber er räumte auch ein, diese Richtlinien seien zu stark vereinfacht, es seien zahlreiche Feinheiten zu beachten, wenn man die Ursache irgendeines Symptoms bestimmen wolle, und Ärzte müssten ihre Entscheidungen letztlich auf ihr gesundes klinisches Urteil stützen. Die Medizin ist keine exakte Wissenschaft. Es ist oft unklar, was wir tun sollen.
    Ein letztes Beispiel für das riesige Reservoir von Anomalien überraschte sogar mich. Es betrifft Schlaganfälle, die fast alle Ärzte für ziemlich dramatisch und eindeutig halten, wenn sie sich ereignen. Aber eine neuere Studie, in der Mediziner bei über zweitausend Menschen – ohne klinische Schlaganfalldiagnose – Gehirn-MRTs vornahmen, weckt Zweifel an diesen Annahmen. Die Teilnehmer waren Einwohner von Framingham in Massachusetts, die sich für die berühmte Framingham-Herzstudie gemeldet hatten. Diese noch laufende Studie gilt als eine der am besten konzipierten Studien, die Einwohner einer ganzen Stadt beobachtet – Menschen, die sich wohlfühlen. Die Forscher wollen herausfinden, bei wem Herz- und Gefäßkrankheiten auftreten, und dadurch mehr über Risikofaktoren erfahren. 10
    Was die MRTs dokumentierten, ist kaum zu glauben: Mehr als 10 Prozent dieser gesunden Teilnehmer hatten einen Schlaganfall erlitten. Die Forscher sprachen von stummen Schlaganfällen. Wie Abbildung 3.1 zeigt, steigt das Risiko, einen stummen Schlaganfall zu erleiden, mit dem Alter. Was mich wirklich verblüffte war die Feststellung, dass es bei 7 Prozent der Teilnehmer unter fünfzig Jahren Anzeichen für einen Schlaganfall gab. Das ist in der Tat unglaublich. Doch ob wir stumme Schlaganfälle behandeln sollten, ist eine andere Frage.
    Das Reservoir von Anomalien in der allgemeinen Bevölkerung geht weit über Gallensteine, Schäden des Bewegungsapparates und Schlaganfälle hinaus. Vor einigen Jahren war die Begeisterung für Ganzkörper-CTs groß. Einige Radiologen richteten gewinnorientierte Privatkliniken ein, die detaillierte Bilder des Innenlebens gesunder Menschen anboten. Einer dieser Fachärzte, der mehr als zehntausend Personen gescannt hatte, bemerkte: »Tatsache ist, dass ich mit dieser modernen Technik noch keinen normalen Patienten gesehen habe.« Das dürfte stimmen. Vor Kurzem wurden im Rahmen einer Studie bei über tausend Menschen ohne Symptome Ganzkörper-CTs gemacht, und mehr als 86 Prozent wiesen mindestens eine Anomalie auf. Da im Verlauf der Studie so viele Anomalien entdeckt wurden – mehr als dreitausend –, kamen die Forscher zu dem Ergebnis, dass bei einem Teilnehmer im Durchschnitt 2,8 Anomalien vorlagen! 12

    Abbildung 3.1 Reservoir von stummen Schlaganfällen, durch MRT entdeckt
    Bildgebende Verfahren entdecken immer mehr Anomalien und immer subtilere Abweichungen und verschieben so den diagnostischen Grad der Anomalien. Dadurch verringern sie zugleich die Bedeutung eines typischen Befundes. Mit anderen Worten: Je mehr wir sehen, desto weniger bedeutet die typische Anomalie, die wir entdecken. Unter den Anomalien, die nur dank der neuen bildgebenden Techniken feststellbar sind, befinden sich meist auch weniger schwere Abweichungen, die mit geringerer Wahrscheinlichkeit Symptome oder den Tod verursachen. Das Grundproblem verdeutlichte ein Experte für fraktale Geometrie, der die täuschend einfache Frage stellte: »Wie viele Inseln umgeben Großbritanniens Küste?« 13 Es gibt keine einzige korrekte Antwort, denn die Antwort hängt davon ab, wie viele Inseln Sie sehen. Die Zahl der Inseln steigt mit der Auflösung der Karte, die man verwendet. Aber wenn die Zahl der Inseln dank besserer Auflösung steigt und viele bislang unentdeckte Inseln auftauchen, nimmt die durchschnittliche Größe der Inseln ab.
    Prüfen Sie es mit Google Earth nach. Falls Sie England nicht mögen, können Sie versuchen, die Seen in Utah zu zählen. Auf einer Karte der Vereinigten Staaten sehen Sie nur einen See, und zwar einen großen: den Großen Salzsee. Vergrößern Sie nun die Karte.

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