Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
nicht alles
Im Jahr 1997 überlegte das Joint National Committee on High Blood Pressure, ob es eine neue Krankheitskategorie einführen sollte: hoch-normalen Blutdruck. Betroffen wären Menschen gewesen, deren diastolischer Blutdruck zwischen 85 und 89 oder deren systolischer Blutdruck zwischen 130 und 139 liegt. Etwa zehn Jahre später bekam der hoch-normale Blutdruck einen neuen Namen: Prähypertonie. Eine große randomisierte Studie zeigte, dass die Gefahr, an Bluthochdruck zu erkranken, verringert werden konnte, wenn man Menschen mit Prähypertonie Medikamente verabreichte, die den Blutdruck senkten. 20 (Warum überrascht mich das nicht? Natürlich senken Blutdrucksenker den Blutdruck!)
Während der ersten zwei Jahre der randomisierten Studie wurde eine Behandlungsgruppe (sie bekam ein Medikament namens Candesartan) mit einer Placebogruppe verglichen. Am Ende der zwei Jahre litten in der Behandlungsgruppe 14 Prozent und in der Placebogruppe 40 Prozent der Teilnehmer an Bluthochdruck. Das ist ein großer Unterschied – vor allem, wenn man erklärt, die Zahl der Erkrankungen sei »um 66 Prozent zurückgegangen«. Aber das ist selbstverständlich; denn wenn wir Menschen Blutdrucksenker geben, sinkt ihr Blutdruck, und bei vielen kommt es nicht zum Bluthochdruck. Das sagt nichts darüber aus, ob das Medikament einen Nutzen hatte.
Immerhin stellte die Studie eine zweite Frage. In den zwei folgenden Jahren wurden beiden Gruppen Placebos verabreicht. Nach insgesamt vier Jahren litten 53 Prozent der Menschen, die zwei Jahre lang behandelt worden waren, und 63 Prozent der Menschen, die nie ein Medikament bekommen hatten, an Bluthochdruck. Ich gebe zu, dass dieses Ergebnis interessanter ist. Es sieht danach aus, als verringere eine nach zwei Jahren abgebrochene Behandlung das Bluthochdruckrisiko, verglichen mit dem Verzicht auf jede Behandlung. Aber die Wirkung ist gering. Und die wichtigere Frage bleibt: Lohnt es sich, dem Bluthochdruck vorzubeugen, indem man ihn behandelt, bevor er auftritt? Wäre es nicht besser, zu warten und nur Kranke zu behandeln? Mit anderen Worten: Trägt die Behandlung der Prähypertonie dazu bei, Herzinfarkte, Schlaganfälle und Todesfälle zu verhindern? Wir wissen nicht, ob die Behandlung der Prähypertonie das Risiko verringert, einen Herz- oder Schlaganfall zu erleiden oder zu sterben. Aber wir wissen, dass der Markt enorm groß ist – etwa achtzehn Millionen neue Patienten. 21
Im Jahr 2002 prägte die amerikanische Diabetesgesellschaft den Begriff Prädiabetes . Gemeint war ein Blutzuckerspiegel, der über dem Normalwert lag, aber noch nicht hoch genug war, um Diabetes zu diagnostizieren. Die Experten sagten (und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln), in den Vereinigten Staaten gebe es siebenundfünfzig Millionen Prädiabetiker. 22 Das ist ein noch größerer Markt, und die Gefahr einer Überdiagnose und Überbehandlung ist gewaltig. Die Befürworter eines niedrigen Cholesterinspiegels sinnen ebenfalls auf eine Ausweitung und schlagen nunmehr vor, auch Kinder zu testen. Die Amerikanische Akademie für Pädiatrie empfiehlt den Ärzten, den Cholesterinspiegel der Kinder zu messen, die übergewichtig sind oder deren Eltern an Herzkrankheiten oder hohem Cholesterinspiegel leiden. Da ein hoher Cholesterinspiegel bei so vielen Eltern diagnostiziert wird, sind eine Menge Kinder betroffen. Die Tests sollen irgendwann vor dem zehnten (aber nach dem zweiten) Geburtstag beginnen. Mit der medikamentösen Behandlung soll man bis zum Alter von acht Jahren warten. 23
Den Experten der amerikanischen Osteoporose-Stiftung muss man zugutehalten, dass sie ihre Behandlungsrichtlinien verfeinert haben. Sie haben zwar den Grenzwert für eine Therapie verschoben, aber sie stellen klar, dass ein T-Wert von -1,0 alleine keine Therapie rechtfertigt. Eine Patientin sollte auch ein Risiko von über 3 Prozent haben, sich in den nächsten zehn Jahren einen Hüftknochen zu brechen. 24 Zur Berechnung dieses Risikos verwendeten sie ein Verfahren der WHO, angepasst an die Vereinigten Staaten. Es verlangt von den Ärzten, eine Website zu öffnen und Alter, Gewicht, Größe und T-Wert einer Patientin anzugeben. Außerdem werden sie gefragt, ob die Patientin raucht oder Steroide einnimmt, ob sie jemals einen Knochen gebrochen hat, ob sie an rheumatoider Arthritis oder Erkrankungen leidet, die eng mit Osteoporose zusammenhängen, und ob sie drei oder mehr alkoholische Getränke am Tag zu sich nimmt. Weiter unten
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