Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
Prostatakrebs diagnostiziert wird.
Die Veröffentlichung der Prostatakrebs-Prävalenzstudie und der neuen Empfehlung zum PSA-Schwellenwert 2,5 führten dazu, dass NBC mich zum ersten Mal zu seiner Sendung Today einlud. Ich wurde als PSA-Gegner angekündigt. William Catalona, ebenfalls Arzt, war der PSA-Befürworter. Catalona war einer der Ersten, die sich für den PSA-Test einsetzten, und obwohl er diesen Test nicht eingeführt hatte, galt er als »Vater des PSA-Tests«. Er war etwa fünfzehn Jahre älter als ich und sowohl vor als auch hinter der Kamera der perfekte Gentleman. Aber er war fest davon überzeugt, dass alle Männer über vierzig sich einem PSA-Test unterziehen sollten und dass Biopsien bereits ab einem PSA-Wert vorgenommen werden sollten, den die meisten Ärzte für sehr niedrig hielten (auch bei Werten unter 2,5, falls sie steigend sind). Ich wandte ein, dass diese Vorgehensweise Tausende von Männern (in Wahrheit Millionen) der Gefahr einer Überdiagnose aussetzen würde und dass viele mit Impotenz und Problemen beim Urinieren rechnen müssten. Einige würden bei der Operation sterben. Ich setzte mich dafür ein, allen Männern beide Seiten der Medaille zu zeigen und sie dann entscheiden zu lassen. Matt Lauer, der Moderator, erfüllte seine Aufgabe vorzüglich, so dass wir in den rund fünf Minuten, die uns zur Verfügung standen, unsere Argumente vortragen konnten.
Doch als die Kameras abgeschaltet waren, fragte er Dr. Catalona sofort, wann und wie er sich untersuchen lassen solle. Daraus habe ich zweierlei gelernt: 1. Ein guter Journalist kann Argumenten und Gegenargumenten gleichermaßen Platz einräumen, selbst wenn er einer Seite zuneigt. 2. Die Werbung für die Vorsorgeuntersuchung ist sehr überzeugend.
Um dieses Problem wirklich zu verstehen, müssen Sie sich mit der Zahl der Männer auseinandersetzen, die möglicherweise betroffen sind. Abbildung 4.4 schätzt die Zahl der Amerikaner im Alter von sechzig bis neunundsechzig Jahren (in diesem Alter waren die meisten Männer der Prostatakrebs-Prävalenzstudie), die bei unterschiedlichen PSA-Werten mit Prostatakrebs diagnostiziert werden. Die Daten zur Verteilung des PSA-Spiegels in der Gesamtbevölkerung stammen aus meiner eigenen Arbeit und der meiner Koautoren. Wenn wir den PSA-Grenzwert ändern, steigt die Zahl der Männer, die voraussichtlich mit Prostatakrebs diagnostiziert werden, drastisch. Dabei stützen wir uns auf die Ergebnisse der Prostatakrebs-Prävalenzstudie. Angenommen, wir halten uns an die Standardregel, wonach ein PSA-Wert über 4 abnorm ist. Dann benötigen 5 Prozent aller Männer im Alter von sechzig bis neunundsechzig Jahren eine Biopsie. Das sind insgesamt 650 000 Männer. 9 Wir wissen, dass bei etwa 30 Prozent der Männer mit einem PSA-Wert über 4 durch eine Biopsie Prostatakrebs festgestellt wird. Das bedeutet, dass rund 200 000 amerikanische Männer die Diagnose »Prostatakrebs« erhalten würden. Wenn wir die Regel ändern und einen PSA-Spiegel über 3 als abnorm betrachten, sind 13 Prozent dieser Gruppe abnorm, und bei 400 000 Männern wird Prostatakrebs diagnostiziert. Erklären wir einen PSA-Wert über 2,5 für abnorm, werden rund 500 000 Männer mit Prostatakrebs diagnostiziert.
Abbildung 4.4 Auswirkung einer Senkung des Grenzwerts für einen abnormen PSA-Spiegel auf die Zahl der 60- bis 69-jährigen Männer, bei denen Prostatakrebs diagnostiziert wird 10
Sie sehen ein klares Muster – und das Problem. Und wo hört das alles auf? Wenn es nur darum geht, mehr Prostatakrebsfälle zu finden, können wir durchaus intensiv suchen. Vergessen wir den PSA-Wert. Verzichten wir auf Nadelbiopsien. Wir entfernen einfach bei jedem Mann die ganze Prostata und lassen sie von Pathologen auf Krebs untersuchen. Natürlich wäre das total verrückt. Es würde bedeuten, dass wir alle Komplikationen der Operation in Kauf nähmen. Millionen Männer würden Schaden erleiden, und einige würden sterben, nur weil wir nach Krebs suchen wollen. Dennoch würden wir mit diesem Verfahren die meisten Krebsfälle entdecken.
Die vielen Gesichter der Krebsprogression
Aber sollte unser Ziel wirklich darin bestehen, möglichst viele Karzinome zu finden? Angenommen, es gäbe eine kostenlose, ungefährliche und schmerzlose Methode, Krebs zu diagnostizieren. Würden wir sie dann nicht anwenden, um Krebs möglichst früh zu entdecken und zu behandeln? Wir wissen heute, dass die Antwort »nein« lautet. Früher war die Auffassung verbreitet,
Weitere Kostenlose Bücher