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Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)

Titel: Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. Gilbert Welch , Lisa M. Schwartz , Steven Woloshin
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Der Beschluss, sechs Gewebeproben zu entnehmen, war völlig willkürlich. Es könnten auch vier oder acht sein, und so gut wie jede andere Zahl wäre ebenfalls möglich. Immerhin entschieden sich die Urologen für eine systematische Vorgehensweise, um Gewebeproben aus der ganzen Drüse zu erhalten: Sie entnehmen aus jeder Hälfte der Prostata drei Biopsien, und zwar oben, in der Mitte und unten.
    Doch einerlei, wie systematisch man sucht, es bleibt bei einer bestimmten Zahl von Proben – jede so groß wie ein Holzsplitter – bei einer Drüse, die so groß wie ein Golfball ist. Denken Sie einmal darüber nach: sechs Proben, jeweils rund fünfundzwanzig Kubikmillimeter groß, aus einer Drüse, die etwa fünfzigtausend Kubikmillimeter groß ist. 5 Die Gewebeproben einer typischen Sextantenbiopsie umfassen also weniger als ein halbes Prozent der Prostata. Manche Urologen fragen sich mit Recht: Sollen wir mehr Nadelbiopsien vornehmen? Würden wir dann noch mehr Krebsfälle entdecken?
    Drei separate Studien, die sich mit dieser Frage befassen, sind in Abbildung 4.2 dargestellt. 6 Jede vergleicht sechs Nadelbiopsien mit elf, zwölf und dreizehn Nadelbiopsien. Ganz offensichtlich fanden die Forscher umso mehr Prostatakrebszellen, je mehr Nadelbiopsien sie machten.
    Eine weitere Studie zu Nadelbiopsien verdient besondere Aufmerksamkeit, weil die Wissenschaftler außergewöhnlich intensiv nach Prostatakrebs suchten. Das Bemerkenswerte an dieser Studie war, dass siebenunddreißig Männer daran teilnahmen, die zuvor nicht nur einmal, sondern mindestens dreimal für krebsfrei erklärt worden waren. 7 Jeder Mann war dreimal untersucht worden, und jeweils sechs Nadelbiopsien waren negativ gewesen. Mit anderen Worten: Jeder Mann in dieser Studie hatte bereits achtzehn oder mehr negative Nadelbiopsien hinter sich. Man sollte meinen, das sei genug. Doch als die Forscher eine – wie sie es nannten – flächendeckende Biopsie vornahmen, nämlich zweiunddreißig bis achtunddreißig zusätzliche Nadelbiopsien, fanden sie bei 14 Prozent der Männer Krebs.

    Abbildung 4.2 Mehr Nadelbiopsien (intensivere Suche) entdecken mehr Prostatakrebs
Eine andere Methode, genauer zu suchen: Neudefinition des abnormen PSA
    Mehr Nadelbiopsien sind nur eine Methode, um intensiver nach Prostatakrebs zu suchen. Man kann auch die Zahl der Männer erhöhen, bei denen Biopsien vorgenommen werden, indem man den PSA-Grenzwert senkt, der bestimmt, was als abnorm gilt. So wie die Praxis, sechs Nadelbiopsien vorzunehmen, war auch die Entscheidung, einen PSA-Grenzwert über 4 als Schwellenwert für Biopsien zu benutzen, völlig willkürlich. Doch erst, als 2004 eine Studie veröffentlicht wurde, erkannten wir, wie willkürlich diese Methode tatsächlich ist. Die Prostatakrebs-Prävalenzstudie maß den PSA-Wert bei rund zehntausend gesunden Freiwilligen, und zwar bei älteren Männern ohne Anzeichen für Prostatakrebs. Dann wurde bei allen Teilnehmern eine Biopsie vorgenommen, unabhängig vom PSA-Spiegel. Was die Forscher feststellten, war erstaunlich: Prostatakrebs kann mit jedem PSA-Wert einhergehen.

    Abbildung 4.3 Anteil der Männer mit der Diagnose »Prostatakrebs« bei verschiedenen PSA-Spiegeln 8
    Natürlich war das Ergebnis bei Männern, deren PSA-Wert über 4 lag, häufiger positiv: Fast 30 Prozent in dieser Gruppe hatten Prostatakrebs. Aber bei niedrigeren PSA-Spiegeln fanden die Forscher fast ebenso oft Prostatakrebs: 27 Prozent der Männer mit einem PSA-Wert zwischen 3 und 4 hatten Krebs. Prostatakrebs war sogar bei Männern mit einem PSA-Wert zwischen 2 und 3 sowie, überraschenderweise, zwischen 1 und 2 feststellbar. Selbst bei Männern mit einem PSA-Spiegel unter 1 wurde durch eine Biopsie in 9 Prozent aller Fälle Prostatakrebs entdeckt.
    Zwar sagten höhere PSA-Werte mehr Prostatakrebs voraus, aber es gab keinen Wert, der Prostatakrebs ausgeschlossen hätte. Es gibt demnach keinen eindeutigen Schwellenwert für eine Biopsie. Trotzdem forderte einer der Hauptbefürworter des PSA-Tests nach Prüfung der Daten, der neue Schwellenwert für eine Biopsie solle ein PSA-Spiegel über 2,5 sein.
    Fragen Sie mich nicht, wie er auf 2,5 kam. Das war wieder einmal eine völlig willkürliche Entscheidung. Aber ich kann Ihnen sagen, dass diese Entscheidung Isaac zu einer Biopsie veranlasste, bei der Prostatakrebs diagnostiziert wurde. Ein niedrigerer PSA-Wert bedeutet, dass bei viel mehr Männern Biopsien vorgenommen werden und dass bei vielen von ihnen

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