Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
dass alle Karzinome unaufhaltsam weiterwuchern. Wenn man sie nicht behandelte, wuchsen sie unweigerlich, bildeten Metastasen und führten letztlich zum Tod. Aber wir sind dabei zu lernen, dass diese Annahme falsch ist.
Wir befinden uns mitten in einem Paradigmenwechsel, was unsere Einstellung zum Krebs anbelangt. Unsere Bemühungen, Krebs durch Vorsorgeuntersuchungen früh zu entdecken, haben gezeigt, dass der Zustand, den die Pathologen »Krebs« nennen, eine Vielfalt von Anomalien umfasst, die sehr unterschiedliche Wachstumsraten aufweisen: von sehr schnell bis völlig statisch. Es stimmt – manchmal ist ein Karzinom nicht progressiv, das heißt, es schreitet überhaupt nicht fort. Mitunter hat es für den Betroffenen keinerlei Folgen. Der Gedanke, dass Krebs manchmal bedeutungslos ist, klingt für einen Mediziner radikal. Er ist so schockierend wie für Biologen des 19. Jahrhunderts die Vorstellung, dass Menschen von Tieren abstammen, oder für Geologen des frühen 20. Jahrhunderts die Behauptung, die Kontinente bewegten sich. Es dauerte Jahre, bis diese einst radikalen Ideen allgemein akzeptiert wurden. Das geschah erst, als man herausfand, welche Vorgänge (die natürliche Auslese und die Plattentektonik) ihnen zugrunde lagen.
Obwohl die Idee, es gebe nicht-progressive Karzinome, unplausibel klingen mag, haben Wissenschaftler damit begonnen, biologische Mechanismen aufzuspüren, die das Fortschreiten eines Karzinoms aufhalten. 11 Manche Karzinome »verhungern«, weil die Blutversorgung nicht ausreicht; andere werden vom Immunsystem erkannt und in Schach gehalten; und manche sind von vornherein nicht aggressiv. Diese Beobachtungen führen zu einem grundlegenden Wandel in der Krebsbiologie.
Abbildung 4.5 auf Seite 101 ist die vereinfachte Darstellung einer möglichen Haltung gegenüber der Krebsprogression und ihrer vielen Gesichter. Die vier Pfeile stehen für vier Krebsarten, eingeteilt nach ihren Wachstumsraten. Jeder Pfeil beginnt an derselben Stelle: dort, wo eine Zelle zum Krebs entartet.
Schnell wachsende Krebsarten führen zu Symptomen und zum Tod. Dies sind die schlimmsten Formen von Krebs. Da wir die Menschen nicht jeden Tag untersuchen und diese Karzinome so schnell wachsen, bleiben sie leider oft unentdeckt, wenn sie zwischen den Vorsorgeuntersuchungen auftreten. Langsam wachsende Krebsarten führen erst nach vielen Jahren zu Symptomen und zum Tod. Was diese Karzinome betrifft, sind Vorsorgeuntersuchungen angeblich besonders nützlich. Diese Vielfalt der Krebsprogression – es gibt schnell und langsam wachsende Karzinome – ist seit Jahren bekannt, vor allem wegen ihrer Bedeutung für die Vorsorgeuntersuchung. Bei der Krebsvorsorgeuntersuchung geht es darum, Karzinome in ihrer vorklinischen Phase zu entdecken, also in der Periode, die mit der Entartung einer Zelle beginnt und mit Symptomen endet. Bei der Vorsorgeuntersuchung werden viel mehr langsam wachsende Karzinome aufgespürt, weil man dafür eine Menge Zeit hat. Aggressive, schnell wachsende Karzinome – genau die Karzinome, die wir am liebsten entlarven würden – werden viel seltener entdeckt, weil dafür vor dem Auftreten von Symptomen nur wenig Zeit zur Verfügung steht.
Manche Karzinome führen nie zu Problemen, weil sie sehr langsam wachsen. Genauer gesagt: Sie wachsen so langsam, dass die Betroffenen an etwas anderem sterben, bevor der Krebs groß genug wird, um Symptome auszulösen. Das betrifft vor allem Menschen, deren Lebenserwartung gering ist – zum Beispiel weil sie sehr alt sind oder an anderen schweren Krankheiten leiden. Das naheliegendste Beispiel ist Prostatakrebs bei älteren Männern.
Nicht-progressiver Krebs verursacht nie Probleme, weil er überhaupt nicht wächst. Manche Zellanomalien gelten bei Pathologen als Krebs (das heißt, sie sehen unter dem Mikroskop wie Krebs aus), werden aber nie so groß, dass Symptome auftreten. Andere wachsen zunächst und schrumpfen dann – diesen Fall symbolisiert in der Abbildung der abwärts zeigende gestrichelte Pfeil.
Abbildung 4.5 Die Vielfalt der Krebsprogression
Überdiagnosen kommen vor, wenn nicht-progressive Karzinome und sehr langsam wachsende Karzinome entdeckt werden. Diese beiden Krebsformen werden im Englischen unter dem Begriff pseudodisease – wörtlich »Scheinkrankheit« – zusammengefasst. Das ist ein passendes Wort, weil diese Karzinome weder Symptome noch den Tod verursachen.
Das Problem mit der Krebsvorsorgeuntersuchung ist, dass sie nicht
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