Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
vorgenommen, die Probleme mit dem Harnlassen haben, weil ihre Prostata vergrößert ist (man spricht in diesem Fall von benigner Prostatahypertrophie oder BPH). Bei der Operation werden Teile der Prostata von der Harnröhre abgeschabt, so dass der Urin besser fließen kann. Als immer mehr Männer sich diesem Eingriff unterzogen, wurden auch mehr Prostataproben an die Pathologen geschickt, die sie unter dem Mikroskop untersuchten und daher mehr Fälle von Prostatakrebs entdeckten.
Nach 1986 wurde die Operation seltener durchgeführt, weil einige Medikamente entwickelt wurden, mit denen man die BPH behandeln konnte. Infolgedessen nahm die Zahl der Prostatakrebsfälle, die nach einer TURP entdeckt wurden, von 1986 bis 1993 um etwa 50 Prozent ab. 14 Aber die Zahl der Prostatakrebsdiagnosen ging nach 1986 keineswegs zurück – sie stieg steil an. Von 1986 bis 1992, als der PSA-Test eingeführt wurde, verdoppelte sich die Zahl der Prostatakrebsdiagnosen beinahe. Wie Sie sehen, schoss diese Zahl zwischen 1990 und 1992 in den Himmel, als der PSA-Test sich durchsetzte.
Nach 1992 ging die Zahl zurück, weil das Reservoir von Prostatakrebsfällen, die entdeckt werden konnten, austrocknete, da nun mehr Ärzte Überdiagnosen befürchteten, vor allem bei älteren Männern. Aber sie erreichte nie mehr das Niveau, auf dem sie sich vor der Einführung des PSA-Tests befunden hatte. Seit 1975 stieg die Zahl der Überdiagnosen enorm. Das spiegelt der Bereich unter der Kurve in Abbildung 4.8 wider.
Abbildung 4.8 Prostatakrebs-Überdiagnosen in den USA
Wenn alle früh entdeckten Karzinome bedeutsam wären, hätten die Vorsorgeuntersuchungen keinen Einfluss auf die Gesamtzahl der Individuen, bei denen irgendwann Krebs diagnostiziert wird. Bei einigen Menschen, die zwangsläufig schwer an Krebs erkranken, würde man den Krebs bei der Vorsorgeuntersuchung lediglich früher entdecken. Andere, die sich nicht regelmäßig untersuchen lassen, würden die Diagnose erfahren, wenn der Krebs so weit fortgeschritten ist, dass er Symptome hervorruft. Aber das Reservoir von Patienten mit schwerem Krebs bliebe relativ konstant, und auch die Gesamtzahl der Diagnosen bliebe stabil.
Das trifft jedoch nicht auf den Prostatakrebs zu. Hier gab es eine Menge zusätzlicher Diagnosen: Seit 1975 wurden etwa zwei Millionen weitere Männer mit Prostatakrebs diagnostiziert. Und wenn Sie mit der Zahl der Diagnosen im Jahr 1986 beginnen und den TURP-Effekt völlig ignorieren wollen, sind es immer noch rund 1,3 Millionen Männer. 15
Zweifellos wurde all diesen Männern mit der Diagnose »Krebs« Angst eingejagt. Aber das größere Problem sind die vielen zusätzlichen Therapien. Die meisten Patienten werden operiert oder bestrahlt. Operationen wegen Prostatakrebs (radikale Prostatektomien) haben bekanntlich Nebenwirkungen: Etwa die Hälfte der Männer leidet an sexuellen Störungen; ein Drittel hat Probleme beim Urinieren; und einige – einer oder zwei von tausend – sterben nach dem Eingriff im Krankenhaus. Die Bestrahlung kann ebenfalls zu Impotenz und Schwierigkeiten beim Urinieren führen (wenn auch etwas seltener), und sie hat eine spezifische negative Folge, weil sie den Enddarm beschädigen kann, der sich unmittelbar hinter der Prostata befindet. Etwa 15 Prozent der bestrahlten Männer haben »ein moderates oder großes Problem« bei der Darmentleerung, meist Schmerzen oder Stuhldrang. 16 Patienten, die Opfer von Überdiagnosen wurden, haben nicht nur keinen Nutzen von der Krebstherapie, sondern können schwer darunter leiden. Das ist kein kleines Problem – es betrifft mehr als eine Million Männer.
Das ist der Grund dafür, dass die amerikanische Preventive Services Task Force, die Vorsorgeuntersuchungen bewertet und die Regierung berät, so zögerlich ist, was die Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung anbelangt. Dieses Gremium besteht aus unabhängigen Experten für Grundversorgung und Vorbeugung, die veröffentlichte Studien prüfen und dann Empfehlungen zu Vorsorgeuntersuchungen abgeben. Die Fachleute erklärten, die Belege seien zu dürftig, um die Vor- und Nachteile einer Prostatakrebs-Vorsorgeuntersuchung für Männer unter fünfundsiebzig einschätzen zu können. Es gebe aber hinreichende Belege für Männer, die fünfundsiebzig oder älter sind. Die Daten ließen darauf schließen, dass Überdiagnosen ein enormes Problem seien. Deshalb riet das Gremium von einer Vorsorgeuntersuchung ab. 17 Die Amerikanische Krebsgesellschaft änderte
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