Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
Es gibt keine Möglichkeit, das herauszufinden. Vielleicht hatte er recht. Vielleicht wäre er an Krebs gestorben, wenn er gewartet hätte, bis Symptome aufgetreten wären. Jetzt ist dieser Krebs vollständig entfernt. Möglicherweise war seine Entscheidung falsch: Vielleicht hätte der Krebs ihm nie geschadet, wenn er nicht nach ihm gesucht hätte. In diesem Fall verdankte er der Diagnose nur eine unnötige Angst sowie eine unnötige Operation und deren Folgen – zum Beispiel Impotenz.
Jeder kennt den potenziellen Nutzen der Krebsvorsorgeuntersuchung: Sie kann vielleicht den Tod durch Krebs verhindern. Relativ wenige verstehen den wahrscheinlicheren Nachteil: Vielleicht wird bei Ihnen Krebs diagnostiziert, und Sie werden behandelt, obwohl dieser Krebs Sie nie behelligt hätte. Außerdem ist eine Untersuchung auf Prostatakrebs ironischerweise die schnellste Methode, ihn zu bekommen.
Wie viel Prostatakrebs ist da drin?
Viele Männer sterben an Prostatakrebs. Allein in den Vereinigten Staaten waren es 2008 schätzungsweise 29 000. Damit liegt Prostatakrebs unter allen Krebsarten an zweiter Stelle, was die Sterberate anbelangt (weit übertroffen wird er allerdings vom Lungenkrebs, an dem 90 000 Männer sterben). Die Wahrscheinlichkeit, dass ein durchschnittlicher Amerikaner irgendwann in seinem Leben an Prostatakrebs stirbt, beträgt 3 Prozent. Die meisten Männer, die an Prostatakrebs sterben, sind alt; das mittlere Todesalter ist achtzig. 1
Die Zahl der Männer, bei denen Prostatakrebs diagnostiziert wird, ist noch höher. In den Vereinigten Staaten waren es 2008 schätzungsweise 186 000. Dies ist die weitaus häufigste Krebsdiagnose bei Männern (mit Ausnahme des weißen Hautkrebses). Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Durchschnittsamerikaner im Laufe seines Lebens die Diagnose »Prostatakrebs« zu hören bekommt, liegt bei 16 Prozent. Das mittlere Alter zur Zeit der Diagnose beträgt achtundsechzig Jahre.
Und noch mehr Männer haben Prostatakrebs, ohne es zu wissen. Es gibt ein Reservoir unentdeckter Prostatakrebsfälle. In den achtziger Jahren untersuchten Pathologen der Cleveland Clinic systematisch zweiundsiebzig Prostatadrüsen, die während einer Blasenoperation entfernt worden waren. Bei keinem der betroffenen Männer bestand der Verdacht auf Prostatakrebs. Dennoch stellten die Pathologen fest, dass dreiunddreißig von ihnen, also fast die Hälfte, Prostatakrebs hatten. Und bei den Männern über sechzig war der Befund noch eindeutiger: Mehr als die Hälfte von ihnen hatte unerwartet Prostatakrebs. 2 Man könnte nun einwenden, diese Studie überschätze die Größe des Reservoirs, weil Männer mit Blasenkrebs vielleicht häufiger Prostatakrebs haben als Männer in der Gesamtbevölkerung. Aber dafür gibt es wenig Belege.
Etwa ein Jahrzehnt nach der Untersuchung an der Cleveland Clinic wiederholten und verbesserten Pathologen in Detroit die Studie. Sie untersuchten Prostatadrüsen von Männern, die bei Unfällen gestorben waren. Krankheiten oder Krebs waren bei diesen Männern nicht bekannt. Und weil die Forscher 525 Männer in unterschiedlichem Alter untersuchten, konnten sie das Prostatakrebs-Reservoir in mehreren Gruppen schätzen. 3
Abbildung 4.1 Prostatakrebs-Reservoir, festgestellt bei Männern nach Unfalltod
Die Ergebnisse sind erstaunlich. Denken Sie daran, dass keiner dieser Männer zu Lebzeiten von seinem Prostatakrebs wusste. Selbst junge Männer in den Zwanzigern waren betroffen: Fast 10 Prozent von ihnen hatten Prostatakrebs. Und der Anteil nimmt mit dem Alter zu. Mehr als drei Viertel der Männer zwischen siebzig und achtzig hatten Prostatakrebs. Das ist ein riesiges Reservoir von Prostatakrebs. Wenn mehr als die Hälfte der älteren Männer Prostatakrebs hat, aber nur 3 Prozent von ihnen daran sterben, ist das Potenzial für Überdiagnosen enorm. 4 Und wann wird dieses potenzielle Problem zu einem realen Problem? Wenn Ärzte genauer hinschauen, um kleine Tumore im Frühstadium zu finden.
Wer genauer hinschaut, findet mehr Prostatakrebs
Wenn es ein großes Reservoir von Anomalien gibt, dann werden wir umso mehr Anomalien finden, je intensiver wir danach suchen. Das wurde nirgendwo eindeutiger bewiesen als bei Biopsien der Prostata. Da es keinen erkennbaren Knoten in der Prostata gibt, entnehmen die Ärzte fast nie nur eine einzige Gewebeprobe, sondern in der Regel sechs. Bei diesen sogenannten Sextantenbiopsien wird in sechs verschiedenen Teilen der Drüse nach Krebszellen gesucht.
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