Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
– Mitte fünfzig. Er arbeitet als akademischer Epidemiologe an einer medizinischen Fakultät im Südosten der Vereinigten Staaten. In den letzten zwei Jahrzehnten habe ich ihn alle paar Jahre bei nationalen Konferenzen getroffen. Isaac ist Onkologe, also ein Krebsarzt. Man spürt eine gewisse Anspannung bei ihm: Er ist aufgeweckt, gesprächig und von seiner Arbeit begeistert. Er untersucht, wie Pharmakonzerne bei Onkologen für ihre Produkte werben. Das ist ein wichtiges Thema und zugleich seine Berufung – er ist hochmotiviert, das Richtige zu tun.
Als ich Isaac zum letzten Mal sah, berichtete er, bei ihm sei Prostatakrebs diagnostiziert worden. Er habe jedes Jahr seinen PSA-Wert messen lassen (PSA steht für »prostataspezifisches Antigen«). Mit diesem Bluttest versucht man, Prostatakrebs zu entdecken. Vielleicht überrascht es Sie, dass jemand eine Blutuntersuchung für sich selbst veranlasst; aber bei Ärzten ist das nicht ungewöhnlich, sofern es sich um einfache Maßnahmen handelt. Wie Isaac mir anvertraute, fürchtete er, sein Ansehen als Onkologe werde in den Augen seiner Patienten geschmälert, wenn er Krebs habe. Deshalb müsse er alles tun, um keinen Krebs zu bekommen.
Einige Jahre lang hatte er einen PSA-Wert unter 2 ng/ml gehabt. Das ist gut. Die übliche (auch in Deutschland gültige) Daumenregel lautet: Die Entnahme und Untersuchung einer Gewebeprobe (Biopsie) ist nur bei Männern erforderlich, deren PSA-Wert über 4 liegt. Aber im Jahr 2004 wurde eine Studie veröffentlicht, die belegt, dass einige Männer Prostatakrebs hatten, obwohl ihr PSA-Wert unter 4 lag. Von da an empfahlen manche Ärzte allen Männern mit einem PSA-Wert über 2,5 eine Biopsie. Andere schlugen vor, diese Entscheidung nicht aufgrund des absoluten PSA-Spiegels zu treffen, sondern bei den Männern eine Biopsie vorzunehmen, deren PSA-Wert innerhalb eines Jahres deutlich steigt (die sogenannte »PSA-Anstiegsgeschwindigkeit«). Ein Jahr später stieg Isaacs PSA-Wert um etwa einen Punkt auf etwas über 2,5. Er entschloss sich zu einer Biopsie.
Eine Prostatabiopsie bei erhöhtem PSA-Spiegel unterscheidet sich stark von anderen Biopsien, die Krebs bestätigen oder ausschließen sollen. Der Grund für eine Biopsie in anderen Organen ist meist ein kleiner Knoten im Gewebe, den ein Arzt ertasten oder auf einem Ultraschallbild sehen kann. Der Zweck der Biopsie besteht darin, dem Knoten eine Gewebeprobe zu entnehmen und sie zu untersuchen. Die meisten Biopsien werden wie bei Isaac wegen eines abnormen PSA-Spiegels vorgenommen, wenn der Arzt nichts ertasten oder auf dem Ultraschallbild nichts erkennen kann. In diesem Fall gibt es also keinen Knoten, den man untersuchen könnte.
Da sich kein bestimmter Teil der Prostata für die Biopsie anbietet, entnehmen die Urologen mit einer dünnen Nadel meist sechs bis zwölf Gewebeproben aus allen Teilen der Drüse und lassen sie auf Krebs testen. Bei Isaac wurden zehn Biopsien vorgenommen, und eine enthielt Krebszellen. Das genügt. Isaac hatte Prostatakrebs. Einerlei, ob Krebszellen in einer von zehn oder in allen zehn Nadelbiopsien gefunden werden, der Patient bekommt jeweils die gleiche Diagnose. Zehn positive Proben lassen jedoch auf einen viel größeren und wahrscheinlich aggressiveren Tumor schließen als eine einzige positive Probe.
Isaac entschied sich für eine radikale Therapie: eine Prostatektomie, die vollständige Entfernung der Prostata. Er hielt das für keine große Sache. Aber er erlebte eine Überraschung. Es war eine große Sache, bestätigte er. Sechs Wochen lang hatte er keine Lust zu arbeiten, weil die Operation ihn erschöpft hatte. Und sechs Monate später war er immer noch impotent. Er sagte, seine Frau und er kämen mit dem Verlust der sexuellen Aktivität zurecht, doch es sei schwierig. Isaac fragte sich, ob seine Entscheidung richtig gewesen war. »Du hättest das nicht gemacht, stimmt’s?«, fragte er mich.
»Nein«, sagte ich. Ich lasse mich nämlich nicht auf Prostatakrebs untersuchen und kann daher gar nicht vor einer solchen Entscheidung stehen (es sei denn, ein Arzt lässt ohne meine Einwilligung im Rahmen einer anderen Blutuntersuchung auch einen PSA-Test vornehmen – genau das ist einem Kollegen passiert). Aber es kann sein, dass ich Prostatakrebs bekomme und daran sterbe. Es ist auch möglich, dass mein Sterberisiko ein wenig geringer wäre, wenn ich mich testen ließe. Wir wissen es nicht genau.
War Isaacs Entscheidung, sich testen zu lassen, richtig?
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