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Die Dichterin von Aquitanien

Titel: Die Dichterin von Aquitanien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tereza Vanek
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einjährige Joanna lag nur in den Armen der Amme, während Henry sich stets lautstark seiner Erfolge im Schwertkampf rühmte. Geoffroy, der jüngste der anwesenden Jungen, verzog dabei regelmäßig das Gesicht. Einmal warf er ein, man solle den Ritter Michel de Harnes, der mit ihnen allen den Kampf geübt hatte, fragen, wer wirklich am besten mit Waffen umzugehen verstünde. Aliénor überraschte alle Anwesenden, indem sie tatsächlich nach diesem Ritter rufen ließ, der daraufhin den Namen des zweitältesten Sohnes nannte.
    Richard war ein hochgewachsener Knabe mit dem rötlichen Haar seines Vaters, doch besaß er Aliénors ebenmäßige Gesichtszüge, die ihn weitaus vornehmer wirken ließen als den königlichen Bären. Das Lob nahm er mit Gelassenheit zur Kenntnis. Er redete selten und hing meist seinen eigenen Gedanken nach, die ihm wichtiger schienen als das Geplauder seiner Geschwister und der königlichen Hofdamen. Trotzdem schenkte Aliénor ihm von nun an die meiste Aufmerksamkeit.
     
    In der folgenden Woche wurde Marie nach dem Mittagsmahl wieder einmal aufgefordert, eine ihrer Geschichten vorzutragen. Sie ließ Hawisa ihre fertig beschriebenen Pergamentblätter bringen. Noch bevor sie eintrafen, hob Aliénor plötzlich den Kopf und meinte zu der Dienstmagd, die gerade mit Honig gesüßte Früchte hereintrug, sie solle Richard rufen. Marie schluckte verwirrt, denn bisher hatte sie nur für ein weibliches Publikum gelesen.

    Richard trat mit seiner üblichen, geistesabwesenden Lässigkeit ein, verneigte sich vor allen Frauen und sank auf einen Stuhl. Marie staunte über die Geschmeidigkeit seiner Bewegungen. Er erinnerte sie an den Löwen im Park von Woodstock.
    »Aus dem wird bald ein bildschöner Mann«, flüsterte Emma ihr ins Ohr.
    »Deine Cousine schreibt wunderschöne Erzählungen«, wandte Aliénor sich an ihren Sohn. »Ich dachte, du würdest gern eine von ihnen hören.«
    Der Junge nickte ohne besondere Begeisterung, und Marie dachte, dass Aliénors Töchter vielleicht mehr Gefallen an Liebesgeschichten gefunden hätten, aber sie schienen ihrer Mutter wohl nicht wichtig genug, um gerufen zu werden. Marie verdrängte diese bitteren Gedanken und begann zu lesen, obwohl sie eine längst überwunden geglaubte Nervosität neu in sich erwachen spürte. Der verträumte, aber dennoch aufmerksame Blick von Richards graublauen Augen, die wie aus Aliénors Gesicht geschnitten waren, ließ sie unsicher werden, obwohl sie nicht verstand, warum sie Angst vor dem Urteil eines zehnjährigen Knaben hatte.
    Dennoch gelang es ihr, die Liebe zwischen der Dame im Turm und dem Ritter lebendig vorzutragen, und sie legte das Pergament erleichtert zur Seite. Die Damen warfen ihr begeisterte Blicke zu, doch Aliénor wandte sich nur an ihren Sohn.
    »Wie hat es dir gefallen, Richard?«
    Der Junge fuhr sich mit der Hand durch seine roten Locken. Wieder staunte Marie, wie viel Grazie in dieser schlichten Geste lag.
    »Der Klang der Worte ist bezaubernd«, meinte Richard. »Doch Ihr hättet die Kämpfe des Ritters ausführlicher schildern können.«

    Marie fühlte Unmut in sich aufsteigen, denn sie war bisher nur gelobt worden, wusste aber, dass sie Richards Meinung hinnehmen musste.
    »Es geht mir vor allem um die Liebe, nicht um den Kampf«, erwiderte sie lediglich. Das nahm Richard hin.
    »Du bist vielleicht noch nicht alt genug, um dich an Liebesgeschichten zu erfreuen«, sagte Aliénor zu ihrem Sohn. Er verzog kurz das Gesicht, dann wandte er sich wieder an Marie.
    »Eure Zeilen sind wie Musik. Ich würde Euch gern auf der Harfe begleiten, wenn Ihr es gestattet.«
    Marie fühlte, dass ihre Wangen heiß wurden. Wie konnte ein Knabe eine solche Wirkung ausüben?
    »Ich kann leider nicht besonders gut singen, Sire«, erwiderte sie verlegen. Richard verzog keine Miene.
    »Ich könnte dennoch eine Melodie spielen, während Ihr lest. Und mit Eurem Einverständnis würde ich die Geschichte gar selbst singend vortragen.«
    Maries Hände verkrampften sich.
    »Wie Ihr wünscht.«
    Richard ließ seine Harfe bringen. Er hatte lange, kräftige Finger, die geschickt über ihre Saiten glitten, um eine traurige Melodie erklingen zu lassen. Als er sang, wurde Marie blass vor Neid. Warum hatte Gott ihr keine derart reine Stimme geschenkt?
    Richard verbeugte sich zum Abschied und verließ schweigend den Raum. Auch den Damen hatte es für eine Weile die Sprache verschlagen.
    »Er hat auch Sinn für Poesie und Kunst«, unterbrach Aliénor

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