Die Dichterin von Aquitanien
ihm wichtig zu sein. Marie hätte endlos weiterplaudern können. Dieser Hügel war Teil einer anderen Welt. Für eine Weile vergaß sie den Palast von Poitiers, die anderen Hofdamen, ihre steten Gefährtinnen, ja sogar Aliénor. Ihr Leben gehörte nur noch ihr selbst.
»Ich wusste nicht, dass Ihr einmal arm gewesen seid«, sagte Jean schließlich mit ungewohntem Ernst. »Das erklärt einiges.«
»Und was sollte es denn erklären?«
Er musterte sie mit seinen blauen Augen, und ihr Herzschlag beschleunigte sich.
»Ihr seid weitaus rücksichtsvoller und gutherziger im Umgang mit einfachen Menschen als die meisten vornehmen Damen, die ich bisher traf. Das fiel mir bereits in Chinon auf, als ich mich vor der versammelten höfischen Gesellschaft lächerlich machte.«
»Ach was«, kicherte Marie. »Ihr wart mutig, vor all diesen Leuten zu singen. Ich hätte dies nie gewagt.«
Jean schien näher herangerückt zu sein. Sie hätte nur leicht den Arm bewegen müssen, um ihn zu berühren, doch fehlte ihr der Mut. Marie legte den Kopf in den Nacken. Die Sonne brannte auf ihrer Haut. Es war heiß. Es war Mittag. Hora sexta. Sie hatte völlig die Zeit vergessen.
»Wir müssen zurück!«, rief sie erschrocken. »Das Mittagsmahl wird bereits aufgetragen!«
»Aber die Königin ist in Limoges«, entgegnete Jean.
»Trotzdem. Man wird mich vermissen, Leute ausschicken, die nach mir suchen.«
Emma täte es wohl kaum, überlegte sie sogleich. Isabelle und die Töchter Raoul de Fayes vielleicht auch nicht, aber Marguerite war eine verantwortungsbewusste Prinzessin, die sich wegen einer verschollenen Hofdame Sorgen machen würde. Marie sprang auf, ergriff den Schleier und den Reif.
»Es tut mir leid, aber wir müssen jetzt wirklich gehen«, erklärte sie Jean. Er erhob sich ebenfalls, auch wenn er missmutig dreinblickte. Gemeinsamen stiegen sie den steilen Hügel hinab. Jean hielt Marie seine Hand hin, um sie zu stützen. Beim Aufstieg hätte sie ihn vermutlich noch angeherrscht, dass sie durchaus ohne seine Hilfe gehen konnte, doch nun ergriff sie seine Hand dankbar. Wärme floss durch ihren Arm. Sie spürte, wie er mit dem Daumen sanft über ihre behandschuhten Finger strich. Kurz schloss sie die Augen, um nichts mehr wahrzunehmen außer dieser Berührung.
Maries Hand lag immer noch zwischen Jeans Fingern, während sie sich schweigend der Stadtmauer näherten. Erst als der Karren eines Händlers über die Brücke rollte und ihnen entgegenkam, entzog sie sich Jeans Griff.
»Ihr wollt keinen Klatsch bei Hofe. Das kann ich verstehen«, sagte er gleichmütig und wahrte Abstand, bis sie das Eingangstor erreicht hatten. Jean trat ein paar Schritte zur Seite, sodass sie nicht im allgemeinen Blickfeld standen.
Dann strichen seine Finger kurz über Maries Handgelenk.
»Ich hatte große Freude an unserer Unterhaltung, Ma Dame. Ich weiß, dass die Königin sehr oft Eure Gegenwart wünscht, doch würde ich mich glücklich schätzen, wenn Ihr manchmal etwas Zeit für mich entbehren könntet.«
Nun pochte Maries Herz noch heftiger. Sein Gesicht war so nahe. Sie musste nur die Hand ausstrecken, um die sonnenverbrannten Wangen zu berühren. Er lächelte, als sie zaghaft über seine Haut strich, und Freude blitzte in seinen Augen auf. Plötzlich war alles so einfach, so selbstverständlich geworden. Jean legte seinen Arm um ihre Taille und zog sie an sich. Sein Mund näherte sich dem ihren. Marie schloss die Augen. Zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben war sie von Pierre geküsst worden, doch seitdem waren fast sieben Jahre vergangen. Diesmal schien das Verschmelzen der Münder ihr inniger und weckte eine ungeduldige Sehnsucht in ihrem Unterleib. Sie spürte, wie Jeans Finger durch ihr Haar fuhren, und presste sich an ihn. Als er sie wieder losließ, tat es weh, als werde ein Stück ihrer Haut abgezogen.
»Wir sollten jetzt vernünftig sein und hineingehen«, sagte er mit einem Blick, der ebenso viel Freude ausdrückte, wie sie selbst über ihrer beider unerwartete Annährung empfand. »So gern ich noch länger bei Euch wäre, Ihr sollt meinetwegen keine Schwierigkeiten bekommen.«
Marie nickte, auch wenn alles in ihr sich dagegen sträubte, Jean zu verlassen. Bevor sie durch das Eingangstor schritten, sah sie noch einmal in sein Gesicht.
»Ich weiß, in welchem Raum die Troubadoure und Jongleure des Palastes untergebracht sind. Ich werde meine Zofe schicken, sobald eine Möglichkeit besteht, dass wir uns treffen könnten«,
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