Die Dichterin von Aquitanien
Wenn sie nicht zu lang sind, lese ich sie gleich durch.«
Die Augen des Knaben begannen zu leuchten. Er griff in seine Kutte und zog ein zusammengerolltes Pergament hervor.
»Es geht um die Heldentaten eines großen Ritters«, erklärte er, und Marie schwante Übles. Sie erkannte die Schrift des Liebesbriefs wieder, der angeblich von Régnier hatte stammen sollen.
Dann las sie, wie ein edler Held sich gegen zehn böse Raubritter schlug und schließlich die Tochter des Anführers zu seinem Weib nahm. Die Geschichte war nicht gerade ungewöhnlich, aber durchaus lebendig geschrieben und in klangvollen Versen verfasst. Nachdenklich legte sie das Pergament in ihren Schoß. Wider all ihre Erwartungen hatte der Junge wirkliche Begabung, er verdiente mehr, als mit ein paar freundlichen Worten fortgeschickt zu werden.
»Es ist ungewöhnlich gut«, sagte sie ehrlich und sah, wie das kreideweiße Gesicht sogleich scharlachrot anlief. »Du kannst schreiben und mit diesem Können vermagst du zudem etwas zu verdienen, indem du Zeilen für Menschen verfasst, die selbst nicht dazu in der Lage sind. Aber wenn du eines Tages deine eigenen Werke an einem Fürstenhof vortragen willst, musst du noch etwas an ihnen arbeiten.«
Die Miene des Knaben verfinsterte sich. Sie bemerkte einen zornig stechenden Blick, den sie dieser schüchternen Gestalt nicht zugetraut hätte.
»Was meint Ihr damit?«
»Nun«, begann Marie vorsichtig. »Die Kampfszenen zum Beispiel. Niemand kann ein Kettenhemd mit einem gewöhnlichen Ast durchbohren. Das ist unglaubwürdig.«
»Und was versteht eine Frau vom Kämpfen?«, zischte der Junge. Dabei flog Spucke aus seinem Mund, und Marie wusste plötzlich, wann sie ihn zum allerersten Mal gesehen hatte. Denis Piramus war bei dem Wettbewerb der Troubadoure aufgetreten, jener linkische, stotternde Knabe, den Emmas abfällige Miene zu Tränen getrieben hatte. Es musste ihm trotzdem gelungen sein, irgendwie am Hof aufgenommen zu werden.
»Vom Kämpfen verstehe ich nicht viel, und deshalb beschreibe ich keine Kampfszenen«, fuhr sie fort. »Rede mit den Rittern, sieh bei den Turnieren zu, wenn du ihr Leben
schildern willst. Oder beschränke dich auf Dinge, die du als Kleriker kennst. Warum verfasst du keine Heiligengeschichten?«
»Weil sie an diesem Hof kaum jemand lesen will«, erwiderte der Junge sogleich. Marie sah ein, dass er recht hatte.
»An diesem Hof sind Damen wichtig«, fuhr sie nach einiger Überlegung fort. »Aber deine Geschichte wird ihnen kaum gefallen, denn du gehst zu wenig auf die Tochter des Raubritters ein. Warum heiratet sie einen Mann, der ihren Vater getötet hat? Wenn der Held sie zu dieser Vermählung zwingt, ist er nicht wirklich edelmütig. Finde einen Grund, warum sie ihn freiwillig nimmt. Vielleicht hat sie schon lange unter ihrem tyrannischen, boshaften Vater gelitten. Lass den Ritter eine Weile um sie werben, bevor die Hochzeit stattfindet.«
Marie lehnte sich zurück. Sie hatte Denis Piramus alles gesagt, was ihr einfiel, und plötzlich wollte sie, dass er ihr Gemach verließ. Etwas Unangenehmes ging von ihm aus.
»Ihr meint, ich soll sie als Hure schildern?«, regte er ihr sich plötzlich auf. »Als eine Frau, die ihre eigenen Gelüste wichtiger nimmt als Gottes Gebot, dass sie sich den Wünschen ihres Vaters und später ihres Gemahls zu fügen hat?«
Marie fuhr hoch.
»Nein, nur als einen Menschen mit eigenen Gedanken und Gefühlen.«
In dem schmalen Knabengesicht funkelten die Augen auf einmal so hasserfüllt, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief.
»Ihr meint, ich soll etwas schreiben wie Eure Lais«, rief er höhnisch. »Jene Geschichten über lasterhafte Frauen, die den Damen hier gefallen, weil sie ihren Wünschen entsprechen. Dabei sind Eure Geschichten nicht einmal wahr. Kein Ritter verwandelt sich in einen Vogel! Ihr lobhudelt nur den
Huren an diesem Hof. Jeder weiß, was für eine Frau Emma d’Anjou ist! Sie treibt es mit Rittern im Palastgang. Und was Euch betrifft, Ma Dame, so habe ich gehört, wie bereitwillig Ihr für schöne Ritter die Beine öffnet, um sie in die Tiefen der Sünde zu locken.«
Er wandte sich so schwungvoll um, dass die Kutte um seine Beine flog, als er aus dem Gemach eilte. Marie war aufgesprungen und unterdrückte mühsam den Wunsch, ihn zu packen und zu ohrfeigen.
»Niemand bat dich, zu mir zu kommen«, rief sie ihm hinterher, bevor die Tür zufiel. Dann schloss sie die Augen und sank wieder auf den Stuhl. Ihr Herz pochte
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