Die Dichterin von Aquitanien
senkte den Kopf. Zum ersten Mal empfand sie einen Hauch von Mitgefühl für ihren Onkel. Er hatte sich ein großes Reich aufgebaut, lange darum gekämpft, König Englands zu werden, und verdiente es nicht, von seinem Sohn verspottet zu werden, der diese Krone einfach nur erben würde. Der junge Henry war unerträglich arrogant.
»Er wird erst an die Macht kommen, wenn sein Vater tot ist«, sagte sie mit Nachdruck. »Und dann muss er sich als König zu behaupten lernen. Das ist nicht so einfach wie bei Turnieren zu brillieren.«
Emma lächelte nachsichtig.
»Dein Wort in Gottes Ohr, Marie. Henry der junge König würde es nicht gern hören. Doch wie auch immer, sie werden alle bald hier sein. Aliénor bekommt die zwei jungen Bräute in ihre Obhut, neben Marguerite und ihren eigenen Töchtern. Langsam ist das ein richtiger Hühnerstall hier.«
Sie setzte sich und wippte mit dem Fuß. Marie seufzte und legte ihren Federkiel nieder. Seit der Geschichte mit Régnier suchte ihre Tante sie häufig auf, als habe sie stillschweigend erkannt, wem sie vertrauen konnte.
»Was ist eigentlich mit John?«, fragte Marie nach kurzem Überlegen. Seltsamerweise schienen alle den jüngsten Sohn vergessen zu haben, als sei er im Kloster von Fontevrault begraben, wohin Aliénor ihn gleich nach ihrer Ankunft in Poitiers geschickt hatte.
Emma zuckte mit den Schultern
»Er ist erst einmal leer ausgegangen. Aber das kann sich noch ändern, denn ich bin mir nicht so sicher, ob diese Verteilung von Henri endgültig gemeint ist. Ich glaube, in dieser Hinsicht werden wir noch einige Aufregung miterleben.«
Emma griff nach dem gesüßten Trockenobst, das Hawisa stets auf dem Tisch bereithielt, und ließ eine Traube genüsslich auf ihrer Zunge zergehen.
»Weißt du eigentlich, Marie, dass der Gründer der Abtei von Fontevrault der Meinung war, dass Frauen das reinere und edlere Geschlecht sind?«, plauderte sie dann munter weiter. »Deshalb haben die Nonnen dort das Sagen. Die Mönche verrichten nur einfache Arbeiten. Ich glaube, aus diesem Grund mag Aliénor dieses Kloster so gern und hat auch ihren jüngsten Sohn dorthin geschickt. Damit er nicht zu einem Ebenbild seines Vaters heranwachsen kann, sondern gleich von klein auf lernt, auf wen er hören soll.«
Sie kicherte ausgelassen, und Marie stimmte ein. Für einen
Augenblick schien die Entwicklung der Dinge nichts weiter als ein aufregendes, spannendes Spiel.
Die verlobten Kinder kamen zwei Wochen später mit einer großen Eskorte nach Poitiers. Aliénor hieß sie persönlich willkommen, und nachdem sie sich hatten kurz ausruhen und umkleiden können, fand ein großes Mahl im Empfangssaal statt.
Marie musterte neugierig die Bräute. Beide Mädchen konnten nicht älter als neun sein, und ihr Anblick weckte unangenehme Erinnerungen an ihre eigene Hochzeit. Sie selbst war fünfzehn gewesen, als sie in die Fremde zu einem unbekannten Mann geschickt wurde, und damit bereits alt genug, um sich ein Bild von ihrer Lage zu machen. War es für Kinder einfacher, ihr Schicksal hinzunehmen?
Constance, Erbin der Bretagne, war ein kräftiges, schwarzhaariges Mädchen, beobachtete die neue Umgebung aus wachen Augen. Beim Essen plauderte sie bereits recht vertraut mit Geoffroy, kicherte über Scherze, die er ihr ins Ohr flüsterte, und schubste ihn einige Male, wenn er ihr zu frech wurde. Der dritte Sohn Aliénors versprach nicht, zu einer strahlenden Erscheinung heranzuwachsen wie seine älteren Brüder. Selbst für seine zehn Jahre war er recht klein, hatte mattes, dunkles Haar und manchmal einen verschlagenen Ausdruck in den Augen, der Marie missfiel. Doch die beiden Kinder schienen sich zu vertragen.
Alais hingegen erinnerte an ein verschrecktes Reh. Sie saß zwischen ihren Schwestern Marguerite und der Gräfin de Champagne, die ihr vertrauter schien, obwohl sie nicht dieselbe Mutter hatten. Marguerite war am englischen Hof aufgewachsen, sodass die beiden Mädchen sich kaum kannten. Alais beantwortete brav alle Fragen, die Marguerite ihr stellte, doch war sie trotz aller Mühen ihrer Schwester unwillig,
mehr als das Allernötigste zu reden. Der prunkvolle Bliaut aus scharlachrotem Tuch schien zu schwer für ihre schmächtige Gestalt. Sie hatte braunes Haar wie Marguerite, nur war ihr Gesicht weitaus feiner und zeigte bereits erste Anzeichen, eines Tages in liebreizender Anmut zu erblühen. Manchmal musterte Alais verstohlen ihren zukünftigen Gemahl. Mit seinen elf Jahren musste Richard auf
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