Die Dichterin von Aquitanien
Angharad ferch Davydd, sie gab mir Mittel, die tatsächlich zu wirken scheinen. Ich verwendete sie schon damals mit Rhys.«
Marie überkam ein berauschendes Gefühl der Leichtigkeit. Sie holte nochmals die Kette aus der Schachtel und legte ihre Finger um die glatten, kühlen Bernsteinkugeln.
»Er hat mich trotzdem belogen«, beharrte sie. »Er sagte, dass nur er dieses Zimmer kennt.«
»Dafür hatte er vielleicht Gründe. Willst du nicht wenigstens mit ihm reden?«
Marie nickte nach kurzem Zögern. Auf einmal wollte sie singen, tanzen, durch den Raum springen, weil es keinen Grund mehr gab, warum sie sich ein Wiedersehen mit Jean verbieten musste. Ein letzter Rest an Verstand mahnte sie zur Vorsicht, denn es wäre keine gute Idee, ihm sogleich wieder in die Arme zu sinken.
»Bring ihm die Kette zurück, aber sage, dass ich auf ihn warten werde. Morgen. Zur Vespera, vor Sonnenuntergang, bevor das Abendmahl im Empfangssaal stattfindet.«
Sie würde nicht wieder schwach werden können, wenn sie rechtzeitig zum Essen erscheinen musste. Hawisa schien endlich zufrieden. Sie nahm die Schachtel an sich und verschwand.
Am nächsten Nachmittag trug Marie ihre Geschichte von der Dame mit den drei Liebhabern vor. Sie entdeckte ein verstohlenes Grinsen auf Emmas Gesicht, während die anhänglichen
Schatten der Gräfin de Champagne andächtig lauschten.
»Hervorragend«, rief der eifrige André, als Marie verstummt war. »Dieses Beispiel zeigt, wie sehr Ritter sich im Dienste ihrer Dame in edlere Menschen verwandeln! Ihre sündhafte Selbstsucht überwinden und lernen, sich den Wünschen ihrer Herrin zu fügen. Als wahre Christen teilen sie sich eine Dame! Es ist sicher dem erbauenden Einfluss unserer unvergleichlichen Marie de Champagne zu verdanken, dass an diesem Hof dichterisches Können zu solcher Größe erblühen kann.«
Die Gräfin ließ die Schmeichelei huldvoll über sich ergehen. Nur in ihren blauen Augen blitzte plötzlich ein Funken von Spott. Hatte sie ebenso wie Emma begriffen, mit welcher Dreistigkeit diese Geschichte über eine unersättliche Frau und ihre drei Liebhaber gegen gesellschaftliche Ordnung und Moral verstieß? Falls dem so war, ließ sie es sich nicht anmerken, denn Aliénors Tochter legte niemals ihre höfische Maske ab. Die anderen Gäste schlossen sich dem Lob sogleich an und wiederholten Andrés Aussage mit weniger geschickten Formulierungen. Marie fiel es schwer, aufmerksam zu lauschen. Im Geiste war sie bereits im Garten und wartete auf Jean. Mit einem Mal schien das Leben am Hofe ihr ein albernes Possenspiel, das mit unnötigem Ernst betrieben wurde. Worüber sprach Aliénor wohl in der Zwischenzeit mit Raoul de Faye? Die Königin hatte sich in einen König verwandelt. Sie befasste sich mit politischen Fragen, während ihre Damen durch belanglose Beschäftigungen abgelenkt wurden.
Schließlich beschloss die Gräfin, sich zum Gebet in die Palastkapelle zurückzuziehen. Marie folgte, da es ihr angebracht schien, und sah, dass nun statt Aliénors Kapellan der dienstbereite André aus der Bibel vorlesen durfte. Er hatte mit ihrer Hilfe tatsächlich sein Ziel erreicht, war der Vertraute
einer einflussreichen Dame geworden. Geduldig sagte sie Gebetssprüche auf, bis sie endlich aus den Diensten der Gräfin entlassen wurde. In ihrem Gemach schlich die Zeit bis zur Dämmerung qualvoll langsam dahin. Sie vermochte sich nicht durch Ideen für weitere Lais abzulenken und war geradezu erleichtert, als jemand an ihrer Tür klopfte.
»Herein«, rief sie und schaute gespannt, als ein bleiches, mit roten Flecken übersätes Jungengesicht im Türspalt erschien. Dem Knaben schien bewusst, dass Gott ihm kein gewinnendes Äußeres vergönnt hatte, denn er bewegte sich mit den gekrümmten Schultern und dem verhuschten Gang eines Menschen, der nicht auffallen wollte.
»Vergebt mir bitte die Störung«, haspelte er. Marie überkam Mitgefühl. Er erinnerte sie an einen ausgemergelten Straßenhund, der zu oft getreten worden war.
»Du störst nicht. Sage mir einfach, was du möchtest.«
Er schien etwas zu wachsen.
»Ich hätte nur die Bitte, ob Ihr gnädig Euren Blick auf ein paar bescheidene Zeilen richten könntet, die ich geschrieben habe.«
Marie seufzte innerlich. Das also wieder. Doch der flehende Blick des Knaben machte es ihr unmöglich, ihn einfach wegzuschicken. Zudem kannte sie ihn bereits: Er hatte damals Régnier de Rancons Liebesgedicht an Emma überbracht.
»Gut, dann gib sie mir.
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