Die Dichterin von Aquitanien
schnippisch ein. »Fünf Jahre hörte ich nichts von dir. Und nun fällst du plötzlich vom Himmel.«
Jean schwieg. Er hob den fortgeworfenen Ast wieder auf und strich nachdenklich über das Holz. Marie bemerkte, dass an seiner linken Hand drei Finger zu Stümpfen geschrumpft
waren. Nur Daumen und Zeigefinger waren unversehrt, die anderen endeten bei dem mittleren Gelenk. Sie spürte einen stechenden Schmerz in ihrer eigenen Hand. Die vergangenen Jahre hatten ihre Zähne noch gnadenloser in den Ritter gebohrt als in eine Nonne, die hinter sicheren Klostermauern ihre Texte geschrieben hatte.
»Ich hätte dir eine Nachricht geschickt, wenn es eine wichtige Neuigkeit gegeben hätte«, murmelte er schließlich.
Marie fuhr auf. Wieder verspürte sie den Drang, auf ihn einzuschlagen. »Fünf Jahre lang wusste ich nicht einmal, ob meine Tochter noch lebt!«, schrie sie.
Jean musterte sie niedergeschlagen.
»Amélie geht es gut. Andernfalls hätte ich dir geschrieben. Sie weiß, dass ihre Mutter eine berühmte Dichterin ist, die in einem Kloster lebt.«
Marie verschränkte die Arme vor der Brust, als müsse sie sich vor einem unsichtbaren Gegner schützen. Sie war selbst ohne Mutter aufgewachsen und hatte diesen Zustand als unabänderlich hingenommen. Doch wie musste sich ein Kind fühlen, dessen Mutter noch lebte, aber nicht bei ihm war?
»Hasst sie mich, weil ich sie verlassen habe?«, fragte sie zaghaft und vermied es, Jean anzusehen, da sie ein Nicken oder schlimmer noch ein verlogenes Kopfschütteln fürchtete. Doch er legte einfach den Arm um ihre Schultern. Marie sank ihm willenlos entgegen.
»Amélie hat kein nachtragendes Wesen. Ich glaube, sie versteht«, sagte er nur und zog Marie enger an sich. Sie staunte, wie vertraut die Nähe seines Körpers ihr noch war.
»Glaub mir, ich hätte dir sofort geschrieben, wenn ich etwas erreicht hätte«, flüsterte er heiser an ihrem Ohr. »Ich bemühte mich, Richard ein mutiger, treuer Gefolgsmann zu sein, und hoffte auf ein Lehen, auf seine Unterstützung, damit wir uns vermählen könnten. Richard hatte es nicht
leicht ohne seine Mutter. Seine Vasallen begriffen schnell, dass er nur ein unreifer Junge war, den sein Vater in die Knie gezwungen hatte. Sie lehnten sich immer wieder gegen ihn auf. Für die Söldner, die mit Henri ins Land gekommen waren, gab es jedenfalls weiter genug Verwendung.«
Marie verdrängte hässliche Bilder aus ihrem Gedächtnis.
»Das Morden nahm also kein Ende«, meinte sie nur und sah ihn nicken.
»Fünf Jahre tat ich für Richard, was ich konnte, doch auf eine Belohnung wartete ich vergeblich. Die Sitten wurden immer rauer an seinem Hof, als die Söldner sich dort breitmachten. Diese Männer sind wie wilde Tiere. Sie verschleppen Frauen und Mädchen, fallen selbst im Palast über sie her. Richard verbietet es nicht, er beteiligt sich sogar daran. Das kriegerische Leben ist sein Element.«
Marie wurde kalt. Was war aus Aliénors edlem, verschwiegenem Sohn geworden?
»Er will unter Männern sein«, sagte sie, ohne weiter nachzudenken. »Und ihnen beweisen, dass auch er ein richtiger Mann ist.«
Jean warf ihr einen zustimmenden Blick zu.
»Eines Tages hatte ich einfach genug. Ich sagte ihm, dass ich ihn verlassen würde«, erzählte er. »Ich wollte lieber auf dem Hof meiner Eltern arbeiten, als weiter sein Ritter zu sein. Und da geschah plötzlich, worauf ich die ganze Zeit gewartet hatte.«
Zaghaft wandte sein Gesicht sich ihr zu. Sie sah ein unsicheres Flackern in seinen Augen.
»Er versprach mir endlich, dass ich dich holen kann.«
Maries Herzschlag setzte für einen Moment aus. Sie ballte ihre Hände erneut zu Fäusten, doch diesmal, um Ruhe zu bewahren. All das kam so plötzlich, so unerwartet.
»Was soll es bedeuten, dass du mich holen kannst, wie ein
vergessenes Möbelstück?«, fragte sie nur. Jean überhörte den giftigen Unterton.
»Wenn es mir gelingt, dich nach Poitiers zu bringen, wird Richard dich nicht an seinen Vater ausliefern, selbst wenn der Zeter und Mordio schreit. Nur um mich in seinen Diensten zu behalten.«
Sie hörte ihn bitter auflachen und begann zu verstehen.
»Er hat dich benutzt«, sagte sie. »Die ganzen Jahre bewusst hingehalten, weil er jeden guten Kämpfer brauchte. Erst als du gehen wolltest, musste er nachgeben, um dich nicht zu verlieren.«
Sie schmiegte sich enger an Jeans Körper, um Trost zu spenden. Seine Hand streichelte ihren Rücken.
»Ich weiß nicht, ob es dir in Poitiers noch
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