Die Dichterin von Aquitanien
erst dann wären sie reif gewesen für die schwermütige Melodie unerfüllter Liebe. Als der Knabe
sich mit dem Ärmel seiner Chemise über die Wange fuhr, um Tränen fortzuwischen, stand Marie auf.
»Ich finde, das war eine gelungene Darbietung, und danke dir dafür«, sagte sie. Trotz aller Entschlossenheit hatte auch ihre Stimme nicht genug Kraft besessen, um durch den ganzen Saal zu hallen, doch einige Gesichter wandten sich ihr zu. Der Jüngling musterte sie stumm. Sie lächelte ihn an. Für einen winzigen Augenblick gab es nur sie beide in diesem riesigen Saal.
»Da haben wir ja noch ein mitfühlendes Herz in unserem Kreis«, hörte sie Emma d’Anjou spotten. »Konkurrenz für Torqueri de Bouillon, würde ich sagen.«
Zu Maries Erleichterung lachte nun niemand mehr, und der Junge konnte sich unauffällig zurückziehen.
»Wer war das eigentlich?«, fragte die Halbwüchsige an Maries rechter Seite.
»Mathilde, du musst dich aufmerksamer am Hof umsehen! Das ist ein Page der Königin, der sich einbildet, ein großer Troubadour werden zu können«, erwiderte Emma sogleich. »Ich glaube, er heißt Jean und stammt aus Aliénors Heimat. Als Sänger taugt er wohl nicht besonders, aber er ist hübsch anzusehen. Ich wüsste mindestens einen Ritter in diesem Saal, der ihn gern bespringen würde.«
Mathilde starrte nur verwirrt. Auch Marie begriff den Sinn dieser Worte nicht. Es musste um etwas Anzügliches gehen, doch das fand nach ihrer Erfahrung nur zwischen Männern und Frauen statt.
»Emma d’Anjou, du führst ungehörige Reden«, tadelte Torqueri nun lautstark. Marie sah das Gesicht ihrer jungen Tante wieder einmal rot anlaufen.
»Nun, da das Winseln des Troubadours vorbei ist, wird es Zeit für die Gaukler!«, hallte die Stimme des Königs durch den Saal. Mit seinem dichten Haarwuchs sah er aus wie ein
Bär und konnte ebenso brüllen. Drei Männer, zwei Hunde und ein Affe betraten den Saal, um Kunststücke aufzuführen. Das wilde Springen, Drehen und Wirbeln ihrer Körper löste weit mehr Begeisterung aus als der klagende Gesang des Jünglings. Lärmender Applaus schlug gegen die Steinwände. Marie wurde langsam müde. Draußen musste es bereits seit Langem dunkel sein, und sie war es gewohnt, mit der Dämmerung schlafen zu gehen, um Kerzen zu sparen.
»Richtig, das Mädchen aus dem Dorf sollte kommen«, hörte sie plötzlich wieder die Stimme des Königs. »Ist es nun endlich da oder nicht?
Maries schwere Lider hoben sich mit einer unguten Ahnung. Sie sah Guy de Osteilli aufstehen und durch den Saal zum Königspaar schreiten. Dann beugte er das rechte Knie und sank zu Boden. Seine rechte Hand berührte zunächst die Stirn, dann die Stelle, wo sich sein Herz befand.
»Sie ist hier?«, bellte der König weiter. »Dann soll man sie mir auch vorstellen, bei Gottes Augen! Wenn meine verehrte Gemahlin mich nicht daran erinnert hätte, hätte ich diese Tochter meines Bruders völlig vergessen. Muss ich denn immer an alles denken?«
Maries Atem setzte aus, als sie sah, wie der Blick von Guy de Osteilli in ihre Richtung wanderte. Schweiß trat aus ihren Poren, drang durch die Chemise und erreichte vermutlich auch den Bliaut. Unter ihren Achseln verspürte sie Feuchtigkeit.
»Du musst jetzt aufstehen und zum König gehen«, flüsterte Torqueri ihr mit Nachdruck zu. Marie gehorchte. Sie staunte, dass ihre Beine in der Lage waren, sie durch den Saal zu tragen. Als die königlichen Gesichter zum Greifen nahe waren, sank sie in die Knie, wie sie es bei Guy de Osteilli gesehen hatte.
»Eine neu hinzugekommene Verwandte also!« Das königliche
Bellen war nun so laut, dass Marie zusammenfuhr. Sie fragte sich, wie die schöne Aliénor diesen ständigen Lärm ertragen konnte.
»Steh auf, Marie, wir möchten dich ansehen«, sagte Henri etwas leiser, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Sie streckte ihre Beine und richtete ihren Blick tapfer auf das Königspaar.
Aus der Nähe betrachtet schien der König immer noch wuchtig, aber weniger ungehobelt. Jene Hälfte seines Gesichts, die der dichte Bart nicht überwucherte, strahlte Geist und Klugheit aus. Sie sah ein belustigtes Blitzen in seinen Augen, die ihr seltsam vertraut vorkamen. Plötzlich wurde ihr klar, woran das lag. Im letzten Jahr hatte sie bei völliger Windstille auf das glatte Wasser des Teichs bei Huguet geblickt und versucht, sich ihre eigenen Gesichtszüge einzuprägen. Weit auseinander stehende graue Augen hatten ihr aus dem Wasser entgegengesehen,
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