Die Dichterin von Aquitanien
saß, den Cadell sein Zuhause nannte. Es mussten bereits Wochen sein, denn die sommerliche Wärme gehörte längst der Vergangenheit an. Aber sie hatte aufgehört, die Tage zu zählen, freute sich nur, wenn ein weiterer zu Ende ging und sie auf ihrem Bett ungestört die Augen schließen konnte.
Die Burg war deutlich kleiner als Dinefwr und ebenso schlicht in ihrer Einrichtung. Zu ihrer Linken konnte Marie den Wachturm sehen, auf dem ein einsamer Wächter stand. Unter ihr liefen Schweine, Hühner und Hunde im Hof herum. Ein Knecht trug einen Stapel von Holzscheiten ins Hauptgebäude. Im Vergleich zu Chinon oder Westminster war Cadells Heim ein verschlafenes Nest. Marie überkam plötzlich Sehnsucht nach dem bunten Treiben, das sie in London und Saint Denis mitbekommen hatte. Tapfer kämpfte sie dagegen an, denn es gab keine Möglichkeit für sie, ihrem Verlies zu entkommen.
Sie spürte das sanfte Knabbern von Cleopatras Schnabel an ihrem Ohr und wandte sich um. Der Papagei unternahm niemals Versuche, durch das Fenster zu entfliehen, obwohl er jene Flügel besaß, nach denen Marie sich sehnte. Die unbekannte Freiheit schien ihn nicht zu reizen, vielleicht, weil er hier in der Burg Cadell ap Gruffydds ein recht angenehmes Leben führte. Maries Hoffnung, ihren Vogel wieder frei fliegen lassen zu können, hatte sich erfüllt. Hawisa säuberte die Kammer sorgfältig von allem Unrat, den Cleopatra hinterließ,
bevor die gelegentlichen Besuche des Burgherrn stattfanden. Marie deckte dabei immer den Käfig zu. Sie wollte nicht, dass ihr geliebtes Tier mitbekam, was zwischen ihr und ihrem Gemahl stattfand. Zudem hätte lautes Gekrächze Cadell vielleicht erzürnt.
Nun streichelte sie über das glänzende, grüne Gefieder. Cleopatra legte genüsslich den Kopf zur Seite. Ihr Gurren bezauberte Marie, und sie drückte einen Kuss auf den krummen Schnabel.
In der letzten Nacht hatte Marie von einem großen Vogel geträumt, der durch ihr Fenster hereingeflattert war. Er hatte sich auf ihr Kissen gesetzt und gewartet, bis sie die Augen öffnete, um sich dann in einen Ritter mit strahlend blonden Locken zu verwandeln.
»Erzähle niemandem von mir, denn sonst brichst du den Zauber«, hatte er ihr zugeflüstert, bevor er sie in seine Arme schloss. Glücklich hatte sie an seiner Brust gelehnt, ohne jedes Verlangen nach lüsternen Berührungen, die Erinnerungen an ihre Hochzeitsnacht hätten wecken können. Der Ritter hatte dies ohne jede Erklärung verstanden.
Marie trat von dem Fenster weg und rief sich in Erinnerung, dass Cleopatra nichts weiter war als ihr Papagei, den sie liebte. Der nächtliche Gast nahm andere Formen an, sein Gefieder war dunkel wie das eines Raben. Sie griff in den Sack mit Körnern.
»Da, nimm«, rief sie Cleopatra zu und freute sich an deren Appetit. Wenigstens gab es ein Wesen, das in dem neuen Zuhause glücklich war.
Die Tür öffnete sich schwungvoll, und Hawisa eilte herein. An ihrem Gürtel klapperte ein schwerer Schlüsselbund, der ihr Eintritt in sämtliche Kammern und Vorratsräume der Burg ermöglichte. Seit ihrer Ankunft in Cadells Heim hatte die Zofe Marie sämtliche Pflichten einer Hausherrin
abgenommen und schien daran sogar Vergnügen zu empfinden. Marie war es recht. So blieb sie ungestört in ihren Träumen.
»Ich habe alles für das Abendmahl vorbereitet«, erklärte Hawisa, sobald sie dir Tür geschlossen hatte. »Dem Herrn Cadell geht es zurzeit nicht gut. Das kalte Wetter macht ihm zu schaffen. Wenn jemand seine Schmerzen lindern könnte, wäre er vielleicht bald schon besserer Laune.«
Marie schüttelte den Kopf.
»Mein Gemahl hat bereits deutlich gemacht, dass er keine ärztliche Hilfe wünscht«, rief sie Hawisa in Erinnerung. »Das letzte Mal ging er mit einem Schwert auf den Medicus los, der ihn zur Ader lassen wollte. Er zieht es vor, sich zu betrinken, bis er den Schmerz nicht mehr fühlt.«
Hawisa ließ sich auf einem Schemel nieder und legte ihre Hände auf die Knie.
»Er weiß, dass die Ärzte ihm nicht helfen«, meinte sie. »Ich kannte in London ein Kräuterweiblein, das Tränke und Amulette verkaufte. Viele Leute schworen, dass ihre Qualen dadurch gelindert wurden. Daher sprach ich mit den Bediensteten, die mir von einer Frau im nächsten Dorf erzählten, die ebenfalls in der Heilkunst bewandert ist. Sie hat zugestimmt hierherzukommen, falls der Herr Cadell willens ist, sie zu empfangen.«
»Das wird er aber nicht sein«, entgegnete Marie mit einem
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