Die Dichterin von Aquitanien
durch das Zimmer zu bewegen. Jenseits der Burgmauern begann der Schnee zu schmelzen. Im Morgengrauen konnte sie bereits Vögel singen hören. Cleopatra stimmte mit einem begeisterten, wenn auch weniger melodischen Krächzen ein.
Maries Tagesablauf wurde endgültig durch Hawisa bestimmt, die dreimal täglich Mahlzeiten in ihr Gemach brachte. Manchmal leistete sie ihr beim Essen Gesellschaft, doch rutschte sie dabei unruhig auf ihrem Stuhl herum und entfernte sich schneller als jemals zuvor. Es gab in der Burg jetzt viel zu erledigen, mit dem Frühling kamen auch neue Aufgaben, meinte die Zofe, aber als Marie einmal nachfragte, was für Aufgaben dies genau waren, kam als Antwort nur ein verlegen gemurmelter Hinweis auf neue Vorräte, die geliefert wurden. Marie glaubte, dass Hawisa die ersten warmen Tage für häufigere Zusammenkünfte mit ihrem heimlichen Geliebten nutzte. Trotzdem war das Strahlen auf dem Gesicht ihrer Zofe verblasst.
Sie wirkte nicht unglücklich, nur voller Anspannung, als warte sie ständig auf wichtige Nachrichten und hätte Angst, sie könnten ihr entgehen, wenn sie zu lange in Maries Gemach sitzen blieb. Beim gemeinsamen Brettspiel fehlte ihr das übliche Geschick. Manchmal überlegte Marie, ob Hawisa sie nun aus Mitgefühl gewinnen ließ, doch hätte ein
solch einfältiges Vorgehen nicht zu dem Verstand ihrer Zofe gepasst.
Vater Brian erschien regelmäßig zum Lateinunterricht. Er forderte Marie nicht auf, die Beichte abzulegen, was ihr sehr einsichtig schien, denn als Bettlägerige hatte sie kaum Möglichkeiten zur Sünde. Zum Glück fragte der Priester auch nicht, wodurch sie Cadells Wutausbruch ausgelöst hatte. Solange noch blaue Flecken Maries Gesicht entstellten, hielt Vater Brian in ihrer Gegenwart meist den Blick gesenkt, als wolle er nicht sehen, wozu sein Schützling fähig war und woran er ihn nicht hatte hindern können. Nur wenn er ihr dabei half, lateinische Heiligenlegenden zu übersetzen und Verben zu konjugieren, schwand die Befangenheit zwischen ihnen, da sie beide ganz in ihrer Aufgabe versanken. Der Priester schien daran ebenso viel Freude zu empfinden wie Marie.
»Vielleicht hättet Ihr Nonne werden sollen, anstatt zu heiraten, Madam«, meinte er einmal nachdenklich. »Ihr besitzt die Gabe der Gelehrsamkeit, doch als Eheweib nützt sie Euch leider nicht viel.«
Marie nickte nur. Niemand hatte sie gefragt, ob sie heiraten wollte, doch war dieser Umstand zu selbstverständlich, um erklärt zu werden. Zu ihrer Zeit an Henris Hof hätte sie auch nicht Nonne werden wollen, denn zu einem derart zurückgezogenen Leben abseits irdischer Freuden fühlte sie sich damals nicht berufen. Die Welt war noch voller verlockender Versprechen gewesen. Jetzt wusste sie nicht mehr, was ihre wahren Wünsche waren, außer Cadells Gesicht nicht mehr sehen zu müssen.
Dieser Wunsch wurde ihr erfüllt. Ihr Gemahl blieb dem Schlafgemach fern und ließ ihr auch nicht mehr den Befehl zukommen, sie solle abends im Rittersaal an seiner Seite sitzen. Eine Weile konnte sie mit der Vorstellung leben, dass
Cadell aus ihrem Leben verschwunden war. Sogar Vater Brian ermahnte sie niemals, die Messen in der Burgkapelle zu besuchen. Niemand hinderte sie daran, in ihrem Gemach zu verharren wie eine furchtsame Maus in der sicheren Geborgenheit ihres Lochs. Marie genoss jeden Tag des Friedens, da sie ahnte, dass dieser nicht von Dauer sein würde.
Ungefähr eine Woche später stellte Marie fest, dass sie ihre zehn Schritte durch den Raum tun konnte, ohne völlig erschöpft zu sein. Es drängte sie geradezu, noch weiter zu gehen, aber sie kam sich albern dabei vor, ständig auf und ab zu laufen wie die gefangenen Tiere im Park von Woodstock. Sie trank einen Schluck Wasser und holte Cleopatra aus dem Käfig, fütterte sie und strich über das weiche Gefieder. Sie wehrte sich verzweifelt gegen jene Frage, die in ihr aufkeimte und fast noch quälender schien als alle Berührungen und Schläge Cadells. Sollte sie den Rest ihres Lebens in diesem Raum verbringen, in dem sie zehn Schritte brauchte, um von einer Ecke zur nächsten zu gelangen? Würde die Welt für sie ein Stück von dem Burghof bleiben, den sie von ihrem Fenster aus erblickte, dahinter eine Mauer und über ihr die unerreichbare Weite des Himmels?
Sie kannte nur ein Mittel, das gegen diese düsteren Gedanken half. Sobald sie wieder in einer Geschichte versank, würde die Gefangenschaft nur ein unwesentlicher Bestandteil ihres Daseins werden. Sie
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