Die Dichterin von Aquitanien
zukünftiges Schicksal zu ertragen, indem sie wieder einmal in Träume versank. Vater Brian brachte auf ihren Wunsch hin neues Schreibmaterial. Sie spann an der Geschichte eines Ritters, den eine verletzte Hirschkuh zu der unglücklichen, eingesperrten Ehefrau führte. Nacht für Nacht erlebte sie die Leidenschaft der Liebenden, versank in ihr und vergaß die Mauern ihres Verlieses. Das beschriebene Blatt legte sie sorgsam stets in dieselbe Ecke ihrer Truhe, und obwohl sie niemals den Raum verließ, außer um zur Latrine zu gehen, sah sie immer wieder nach, ob es nicht verschwunden war. Es blieb an Ort und Stelle, aber die erste, verschollene Geschichte tauchte nicht mehr auf. Marie gab es auf, sich den Kopf zu zerbrechen, was mit den Blättern geschehen sein konnte. Sie genoss einfach das Schreiben.
Das Osterfest fand statt, drang als entfernter Klang von Gesang und Gebeten durch die Türschlitze in ihr Gemach, doch wurde sie weder in die Kapelle noch an die Tafel des Rittersaals geladen. Hawisa brachte einen mit bunten Bändern geschmückten Strauß aus Frühlingszweigen herein.
»Wenn du willst, wird Vater Brian zu dir kommen und ein paar Gebete mit dir sprechen, um die Auferstehung unseres Herrn Jesu zu feiern«, schlug sie Marie vor. Maries Hände glitten über das frisch glänzende Holz und die weichen, pelzigen Eichkätzchen des Straußes. Plötzlich wurde der Drang nach Freiheit so stark, dass sie daran zu ersticken glaubte.
»Meinst du, der Herr Cadell würde mir erlauben, einmal die Burg zu verlassen? Ich möchte nach draußen gehen, nur für kurze Zeit«.
»Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee wäre. Selbst wenn dein Gemahl es gestattet. Normannen sind hier im Augenblick
sehr unbeliebt. Guy de Osteilli wurde gestern von mehreren Rittern angegriffen. Er hatte Glück, denn sein Freund, der Sänger Owein, mischte sich ein und beruhigte die aufgebrachten Gemüter durch ein altes Heldenlied, das wahre Tapferkeit als gerechten Kampf rühmte. Wenn zehn Männer auf einen Einzelnen losgehen, sei das keine Heldentat mehr, fügte er hinzu. Guy wurde verschont, da Owein hier sehr angesehen ist.«
Marie senkte den Kopf. Sie hatte nicht einmal einen walisischen Barden, der sich für sie einsetzen würde.
»Was hast du eigentlich in diesem Brief an meinen Onkel geschrieben?«, fragte sie nun. Die Zofe strich verlegen über ihren Kittel.
»Ich schrieb, was Guy de Osteilli mir sagte, nichts weiter. Dass du hier unglücklich bist und wieder an den königlichen Hof zurückkehren möchtest.«
Marie schüttelte verwirrt den Kopf.
»Warum wartete man nicht, bis ich in der Lage war, diese Zeilen selbst zu schreiben?«
Hawisa wandte ihr den Rücken zu und zupfte noch ein wenig an dem Strauß herum.
»Wir dachten, es sei dir vielleicht unangenehm, deinen Onkel anzuflehen. Das ist alles.«
Dann eilte sie zur Tür.
»Ich werde gleich dein Mittagsmahl bringen, Marie. Die Fastenzeit ist vorbei. Es gibt gebratenes Lamm.«
Marie nickte und ergriff Hawisas Ärmel.
»Ich habe im Moment nicht den geringsten Appetit«, sagte sie. »Aber heute Abend, da essen wir den Lammbraten gemeinsam«. »Und dann, wenn alle in der Burg schlafen, können wir zusammen ein paar Runden auf dem Hof drehen. Ich brauche frische Luft, Hawisa, sonst ersticke ich irgendwann. Aber ich will Cadell nicht begegnen.«
Die Zofe sah Marie unschlüssig an, doch schließlich murmelte sie ihre Zustimmung.
Die Nachtluft war warm und doch erstaunlich erfrischend. Marie hatte ihren schlichten Kittel angezogen und stellte erleichtert fest, dass der einsame Wachmann am Burgtor ihr keine besondere Aufmerksamkeit schenkte. Zusammen mit Hawisa lief sie über das freie Gelände, genoss den Anblick des mit Sternen übersäten Himmels, um dann wieder im Hauptgebäude der Burg zu verschwinden, bevor der Wachmann ihr Verhalten merkwürdig zu finden begann. Hastig huschten sie die Stufen hoch. Die Tür zu ihrem Gemach war bereits zu sehen, als sich plötzlich ein Stück weiter oben auf der Wendeltreppe eine andere öffnete. Marie hielt vor Schreck inne, schob Hawisa vorsichtig zurück und blies ihre Kerze aus. Ein Mann tauchte auf. Marie konnte nur die Umrisse seiner Gestalt erkennen und presste sich gegen das Gemäuer.
»Verlasst Euch auf mich, Sire. Ich werde tun, was Ihr verlangt«, war eine Stimme auf Englisch zu vernehmen, doch konnte Marie den normannischen Akzent heraushören.
»Gut. Deine Belohnung ist dir sicher.«
Marie fröstelte, denn zum ersten
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