Die Dichterin von Aquitanien
Mal seit langer Zeit hörte sie Cadell reden.
Zu ihrem Entsetzen stieg der unbekannte Befehlsempfänger nun die Treppe hinab, näherte sich ihr mit jeder Stufe. Marie wandte sich kurz um, konnte aber Hawisa nicht mehr entdecken. Die Zofe musste leise hinuntergeschlichen sein und sich irgendwo versteckt haben. Marie verfluchte sich, dass dieser Gedanke nicht auch ihr gekommen war. Schließlich entschied sie sich dafür, einfach die verbleibenden Stufen bis zur Tür ihres Gemachs hochzusteigen, so gelassen und selbstverständlich, als habe sie ihren Aufstieg gerade eben begonnen, ohne etwas von der Unterhaltung mitzubekommen.
Tatsächlich würdigte der Mann sie keines Blickes, eilte nur so rasch an ihr vorbei, wie die schmalen Stufen es zuließen. Marie atmete auf, als sie an ihrer Tür angelangt war. Schnell schob sie sich durch den Spalt. Im Inneren zündete sie ein paar Kerzen an und schenkte sich noch einmal Bier ein, als Hawisa hereinkam, sich setzte und ebenfalls nach dem Bierkrug griff.
»Dieser Mann, der die Treppen hinunterging, ich könnte schwören, das war Fulk, einer von Guys Gefolgsleuten, die der König ihm mitgab«, sagte sie nachdenklich.
Marie zuckte mit den Schultern.
»Wie willst du das so genau wissen? Es war doch dunkel.«
»Er ist sehr groß, das fällt auf. Außerdem trug er eine Kerze in der Hand. Ich hatte mich hinter der Tür zum großen Saal versteckt und konnte ihn vorbeigehen sehen.«
»Na gut, dann war es vielleicht dieser Fulk«, räumte Marie ein. »Aber was sollte er mit Cadell zu bereden haben?«
Hawisa erstarrte kurz. »Er hat mit Cadell gesprochen? Worüber denn?«, fragte sie dann.
»Es ging um eine Botschaft, die dieser Fulk seinem Herrn überbringen soll. Dafür wurde ihm eine Belohnung versprochen. Aber das ergibt alles keinen Sinn. Wenn Cadell Guy etwas mitzuteilen hätte, könnte er doch nach ihm rufen lassen, anstatt einen der Gefolgsmänner als Boten zu nutzen. Vielleicht habe ich es falsch verstanden.«
Sie nahm einen weiteren Schluck Bier und gähnte herzhaft. Die Nachtluft hatte ihr ein herrliches Gefühl der Bettschwere verliehen.
»Lass uns schlafen gehen, Hawisa«, meinte sie abschließend. »Und bitte versprich mir, dass du ab und an wieder so einen nächtlichen Ausflug mit mir unternimmst.«
Die Zofe nickte, zog ihren Kittel aus und legte sich auf die Matratze.
Allmählich zog der Sommer ins Land. Einige Tage lang war die Hitze so drückend, dass Marie sich in ihrer Chemise auf dem Bett ausstreckte und krügeweise Wasser trank. Dann, eines Nachmittags, verdunkelte sich der Himmel plötzlich, und Regen prasselte durch die Fensteröffnung. Marie trug Cleopatras Käfig in eine geschützte Ecke, denn der Wind fegte mit einem ohrenbetäubenden Pfeifen in ihre Kammer. Das befürchtete Unwetter ist ausgebrochen, dachte sie und schmunzelte, wenn auch nur in sehr wörtlichem Sinne. Aber die feuchte, kühle Luft weckte ihre Lebensgeister. Sie kramte die Schreibutensilien aus der Truhe, damit sie noch etwas vorankam, bevor Hawisa das Abendmahl brachte. Bald schon wurde es so finster, dass sie an der Feuerstelle in der Zimmerecke eine Kerze anzünden musste. Das Feuer hatte seit Wochen aufgrund der Hitze nur schwach glimmen dürfen, denn gelöscht wurde es nie. Sie warf noch ein paar Scheite hinein, da es unangenehm kühl zu werden begann. Danach tauchte Marie in der Welt ihrer Geschichte.
Das Geräusch schwerer Schritte holte sie in die Wirklichkeit zurück. Rasch ließ sie ihr Pergament in der Truhe verschwinden. Hawisa war inzwischen in ihre heimliche Leidenschaft eingeweiht, doch sonst hielt Marie es für klüger, mit niemand anderem darüber zu reden. Da sie nur ihre Chemise trug, legte sie sich eine Decke über die Schultern.
Als die Tür sich öffnete, stellten sich Maries Nackenhaare auf: Cadell stand im Türrahmen. In den letzten Monaten, da sie einander gemieden hatten, schien er noch mehr gealtert zu sein. Seine Augen blinzelten aus verquollen Lidern hervor, doch lag ein kalter Zorn in ihnen. Er betrat den Raum, ohne zu grüßen, schloss die Tür hinter sich und schob den Riegel davor. Marie wurde kalt. Cadells Abwesenheit in ihrem Schlafgemach war für sie so selbstverständlich geworden, dass sie aufgehört hatte, darüber Erleichterung zu
empfinden. Nun kam die Erinnerung an den Vollzug der Ehe mit aller Deutlichkeit zurück. Verzweifelt bekämpfte sie den Wunsch loszurennen, denn es gab keine Fluchtmöglichkeit. Sie würde es überstehen müssen,
Weitere Kostenlose Bücher