Die Diebe von Troja - ein Abenteuer um Heinrich Schliemann
sorgfältig wieder hinter sich.
Zoe hatte nur Augen für ihr Glas mit der verlockenden Limonade. Sie betrachtete es wie eine unbezahlbare Kostbarkeit, zögerte, davon zu trinken, roch daran und stellte es dann behutsam vor sich auf den Boden. Die Vorfreude auf den ersten Schluck wollte sie noch so lange wie möglich vor sich herschieben. Sie ließ das Glas nicht aus den Augen, spürte voller Interesse, wie ihr beim Betrachtendas Wasser im Munde zusammenlief, gleich würde ihr die wunderbar saure Flüssigkeit den ganzen Mund ausfüllen, ihn fast schmerzhaft zusammenziehen, ihr einen kleinen Schauer über den Rücken jagen. Eine geradezu magische Kraft schien von diesem Getränk auszugehen ...
Im selben Moment hörten Jannis und Zoe einen seltsam klagenden Singsang. Ein eiskalter Schauer lief ihnen über den Rücken, denn sie wussten nur zu gut, was diese herzzerreißenden Klänge zu bedeuten hatten. Es war die Totenklage für einen Verstorbenen, vorgetragen von Klageweibern, die extra zu diesem Zweck in das Trauerhaus gekommen waren, um hier gegen Geld ihre Arbeit zu tun: lautstark zu trauern und sich die Augen aus dem Kopf zu weinen. Erschrocken sahen sich die Kinder an: Nebenan lag eine Leiche! War es wirklich klug gewesen hierherzukommen? Warum hatte Jannis nur seinen Bruder nicht eingeweiht? Keiner ahnte, wo sie waren, schlimmer noch: Seine Mutter glaubte, er sei auf der Suche nach seiner Schwester! Jetzt saßen er und Zoe in dem Haus wildfremder Leute, nebenan lag ein Toter und gleich würde die merkwürdige Kyria zurückkehren. Womöglich war der Dicke nicht weit, der ihn lieber tot als lebendig sehen würde ...
»Wissen deine Eltern, wo du bist?«, erkundigte sich Jannis vorsichtig bei Zoe.
»Nein, natürlich nicht«, strahlte Zoe voller Stolz, »ich bin heimlich abgehauen!« Der kalte Schauer auf Jannis’ Rücken gefror fast zu Eis.
Um sich abzulenken, griff er nach dem Glas mit der Limonade vor sich.
»Warum trinkst du nicht?«, fragte er, leerte sein Glas mit einem Schluck und wunderte sich, wie seltsam dieses Getränk schmeckte.
»Gleich«, antwortete Zoe. Sie wollte sich zu Jannis umdrehen, stieß dabei aber mit ihrem Fuß gegen das vor ihr stehende Glas. Das fiel um und zerbrach auf dem Steinfußboden in unzählige Stücke. Erstarrt vor Schreck sah sie zu, wie sich die Flüssigkeit über den Boden ergoss. Wie sollte sie das der Alten erklären? Am liebsten wäre sie aufgesprungen und weggelaufen.
»Mach dir keine Sorgen«, tröstete Jannis sie. »Ich werde der Alten sagen, dass ich das Glas kaputt gemacht habe, einverstanden?«
Zoe sah ihn dankbar an.
Jannis wollte aufstehen, um die Scherben zusammenzuräumen, doch seine Beine gehorchten ihm nicht. Er blieb am Boden sitzen und begann zögernd zu sprechen: »Vielleicht finden wir – einen – Lappen – was – ist – denn bloß – mit mir los? Ich – ich – bin plötzlich sooo müde ...« Im Halbschlaf hörte er die klagenden Frauen und – ohne zu wissen, ob er bereits träumte – ein Lachen, das er nur zu gut kannte. Es war das fiese, bösartige Lachen des Dicken. Dessen Worte waren das Letzte, was Jannis hörte: »JS, jetzt haben wir dich!«
Dann sackte sein Kopf zur Seite, seine Augen fielen zu und aus seinem Mund kamen leise schnarchende Geräusche.
Zoe blickte ihn voller Entsetzen an. Wie konnte Jannis bloß einfach einschlafen? Als Gast in einem fremden Haus? Jeden Moment konnte Kyria Evdoxia wieder im Zimmer stehen. Zoe beugte sich zu Jannis herüber und rüttelte ihn kräftig.
»Jannis, wach doch auf! Jannis!«
Aber Jannis lag da wie ein Toter. Zoe starrte ihn erschrocken an. Was war geschehen? Was sollte sie nun tun? Plötzlich fiel ihr Blick auf die Pfütze und augenblicklich begriff sie: Irgendetwas musste ihre Gastgeberin in die Limonade gemixt haben. Was hatte das zu bedeuten? So viel war selbst Zoe klar: bestimmt nichts Gutes!
Jannis schnarchte leise auf. Zoe erhob sich und horchte mit gespitzten Ohren auf die Geräusche des Hauses. War die Kyria bereits auf dem Rückweg? Das Mädchen schlich zur vorderen Tür, durch die sie das Haus betreten hatten, und versuchte sie zu öffnen. Mit aller Kraft drückte sie die Türklinke nach unten. Nichts tat sich, sie war verschlossen. Und die kleinere Tür? Auch sie bewegte sich keinen Millimeter, sosehr sie sich auch dagegenstemmte. Die Kyria hatte alles versperrt, sie und Jannis waren gefangen!
Zoes Knie begannen zu zittern. Nun war sie ganz auf sich allein gestellt, sie musste
Weitere Kostenlose Bücher