Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)
glücklich, mit kratzenden Nägeln anstelle des weggeschossenen Schuhabsatzes, hinaus in ein wiedergeborenes London.
In einen reinigenden Gewitterregen.
Am 12. April 1908 starb Edward Mallory im Alter von dreiundachtzig Jahren in seinem Haus in Cambridge. Die genauen Umstände seines Todes liegen im Dunkeln; anscheinend war man bestrebt, im Zusammenhang mit dem Ableben eines ehemaligen Präsidenten der Royal Society die gebotene Schick lichkeit zu wahren. Die Aufzeichnungen von Dr. George Sandys – Lord Mallorys Freund und behandelnder Arzt – lassen erkennen, dass der große Gelehrte an einer Gehirnblutung starb. Sandys notierte auch, offenbar für seine eigenen Unterlagen, dass der Verstorbene sich in seiner Unterkleidung mit Socken und Sockenhaltern und zugeschnürten ledernen Straßenschuhen auf sein Totenbett gelegt hatte.
Der Arzt, ein gründlicher Mann, bemerkte auch einen Gegenstand unter dem weißen Vollbart des Verstorbenen. Um den Hals des großen Mannes hing an einer dünnen Stahlkette ein alter Damen-Siegelring, der das Wappen der Familie Byron und das Motto CREDE BYRON trug. Die Notiz des Arztes ist der einzige bekannte Hinweis auf dieses Vermächtnis, möglicherweise ein Geschenk, das besondere Wertschätzung ausdrücken sollte. Sehr wahrscheinlich nahm Sandys den Ring mit der Kette an sich, obwohl ein genaues Verzeichnis seiner Hinterlassenschaft, angefertigt nach seinem Tod im Jahr 1940, den Gegenstand nicht aufführt.
Auch in Mallorys Testament, einem sehr ausführlichen Dokument von akribischer Genauigkeit, findet sich keine Erwähnung eines solchen Ringes.
Stellen wir uns Edward Mallory im Arbeitszimmer seines herrschaftlichen Hauses in Cambridge vor. Es ist spät. Der bedeutende Paläontologe, der die Tage seiner Feldarbeit lange hinter sich und seinen Vorsitz der Royal Society schon vor geraumer Zeit niedergelegt hat, widmet den Winter seines Lebens Fragen der Theorie und beratenden Funktionen in der wissenschaftlichen Verwaltung.
Lord Mallory hat die radikale Katastrophenlehre seiner Jugend seit Langem modifiziert und ist mit geziemendem Takt von der Vorstellung abgerückt, dass die Erde nicht älter als dreihunderttausend Jahre sei – nachdem radioaktive Datierungen ein weitaus höheres Alter erwiesen hatten. Es genügt Mallory, dass der Weg über die Katastrophentheorie ihn zu einer höheren geologischen Wahrheit und zu seinem größten persönlichen Triumph führte: der Entdeckung der Kontinentaldrift im Jahre 1865.
Mehr als der Brontosaurus, mehr als der Fund der Dinosauriereier des Protoceratops in der Wüste Gobi, ist es dieser erstaunliche Sprung kühner Einsicht, der seinen unsterblichen Ruhm gesichert hat.
Mallory, der mit wenig Schlaf auskommt, setzt sich an einen geschwungenen japanischen Schreibtisch aus Ebenholzimitation. Durch die Gardinen der hohen Fenster sind die grellweißen Lampen hinter den vielfarbigen, abstrakt gemusterten Fenstern des Nachbarhauses zu sehen. Dieses Nachbarhaus ist, wie Mallorys eigenes, eine sorgfältig orchestrierte Schwelgerei in organischen Formen, gedeckt mit Drachenschuppen aus schillernder Keramik. Die Häuser verkörpern den in England vorherrschenden Stil moderner Architektur, obwohl die Stilrichtung selbst ihren Ursprung in der blühenden Republik Katalonien hat.
Mallory hat kurz zuvor eine vorgeblich geheime Sitzung der Gesellschaft des Lichts aufgehoben und die Mitglieder verabschiedet. Als letzter Hierarch dieser schrumpfenden Bruderschaft trägt er heute Abend seine Amtsgewänder, bestehend aus einem indigofarbenen, scharlachrot gesäumten wollenen Überwurf, ähnlich einem Messgewand, und ein ähnlich gesäumtes bodenlanges Untergewand, das mit konzentrischen Ringen aus Halbedelsteinen besetzt ist. Er hat eine vergoldete, perlenverzierte Bügelkrone mit Nackenschutz aus überlappenden Goldschuppen beiseitegelegt; sie ruht auf einem kleinen Tischdrucker.
Er setzt seine Brille auf, stopft sich eine Pfeife, zündet sie an. Sein Sekretär Cleveland ist ein peinlich genauer und ordentlicher Mann und hat ihm zwei Sätze Dokumente säuberlich in messinggefassten Ordnern aus braunem Manila auf dem Schreibtisch bereitgelegt. Ein Ordner liegt zu seiner Rechten, der andere zu seiner Linken, weil der Diener nicht vorher wissen kann, für welchen er sich entscheiden wird.
Mallory wählt den Ordner zu seiner Linken. Er enthält einen maschinengedruckten Bericht von einem älteren Würdenträger der Meirokusha, einer berühmten Bruderschaft
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