Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)
japanischer Gelehrter, die nicht zufällig als das führende orientalische Kapitel der Gesellschaft des Lichtes gilt. Der genaue Text des Berichts ist in England nicht zu finden, wird aber in Nagasaki aufbewahrt, versehen mit einem Hinweis, dass er dem Hierarchen am 11. April telegrafisch zugeleitet wurde. Der Text deutet an, dass die Meirokusha, nachdem sie einen ernsten Rückgang der Mitgliederzahl und der Teilnehmerzahl an ihren Versammlungen zu verzeichnen hatte, durch Abstimmung die Vertagung künftiger Versammlungen auf unbestimmte Zeit beschlossen hat. Der Nachricht beigefügt ist eine detaillierte Aufstellung der Kosten für Speisen und Getränke sowie für die Miete eines kleinen Nebenraums im Seiyoken, einem Restaurant im Tsukiji-Viertel von Tokio.
Obwohl diese Nachricht nicht unerwartet kommt, verspürt Lord Mallory Enttäuschung und Bitterkeit. Sein selbst zur besten Zeit heftiges und aufbrausendes Naturell hat sich mit dem Alter noch verschärft; seine Entrüstung schwillt an zu hilfloser Wut.
Eine Gehirnarterie platzt.
Diese Verkettung von Ereignissen findet nicht statt.
Er entscheidet sich für den Ordner zu seiner Rechten. Dieser ist dicker als derjenige zu seiner Linken, und dies erregt seine Neugier. Der Ordner enthält einen ausführlichen Feldbericht von einer paläontologischen Expedition der Royal Society zur Pazifikküste Westkanadas. Erfreut und angeregt durch nostalgische Gedanken an seine eigenen Expeditionstage, liest er den Bericht aufmerksam durch.
Die moderne Wissenschaftsarbeit ist kaum noch mit derjenigen seiner Tage zu vergleichen. Die britischen Wissenschaftler sind von der blühenden Metropole Victoria zum Festland geflogen und haben einen mit allen Annehmlichkeiten der Zivilisation ausgestatteten Stützpunkt im Küstendorf Vancouver bezogen, von wo sie mit Motorwagen beinahe nach Belieben die Forschungsgebiete in den Bergen erreichen können. Der Expeditionsleiter ist ein junger Wissenschaftler namens Morris, der in Cambridge promovierte und an den sich Mallory als einen etwas sonderbaren Burschen mit Ringellocken erinnert, der eine Vorliebe für Samtumhänge und ausgefallen modernistische Hüte hat.
Die untersuchten Schichten sind kambrisch, dunkler Schiefer von einer nahezu lithografischen Qualität. Und es scheint, dass sie von einer Vielfalt von Einschlüssen wimmelt, den papierdünnen und gründlich zerdrückten Überresten einer altertümlichen Fauna von Wirbellosen. Mallory, ein Fachmann für Wirbeltiere, beginnt das Interesse zu verlieren; er hat, so meint er, mehr Trilobiten gesehen, als einem Menschen zugemutet werden sollte, und in Wahrheit hat er es immer schwierig gefunden, sich für etwas von weniger als fünf Zentimetern Länge zu begeistern. Schlimmer noch ist, dass ihm die Prosa des Berichts unwissenschaftlich vorkommt, gekennzeichnet durch eine höchst unpassende Grundstimmung unkritischer Begeisterung.
Er wendet sich den Abbildungen zu. Schon die erste Abbildung zeigt ein Ding, das fünf Augen besitzt. Statt einer Mundöffnung hat es einen langen Greifrüssel.
Da ist ein beinloses, rochenartiges Lebewesen, nichts als Lappen und Gallerte, mit einem flachen, zahnbesetzten Maul, das sich seitwärts zu schließen scheint.
Und da ist ein Lebewesen mit vierzehn hornigen, zugespitzten Dornen anstelle von Beinen, das weder einen Kopf noch Augen zu haben scheint, aber sieben winzige Mundöffnungen jeweils am Ende eines biegsamen Saugarms.
Diese Lebensformen haben keine Ähnlichkeit mit irgendeiner bekannten Kreatur aus irgendeinem Abschnitt der Erdgeschichte.
Verwunderung steigert sich zur Erregung, sorgt für Blutandrang in Mallorys Kopf. Ein Strudel von Implikationen beginnt sich in ihm aufzulösen und allmählich in ein seltsames, durchsichtiges Leuchten überzugehen, einen ekstatischen Aufschwung zu völligem Verständnis, immer heller, immer klarer, immer näher …
Er sackt vornüber, sein Kopf schlägt auf die Tischplatte. Dann rutscht er vom Stuhl und bleibt auf dem Rücken liegen, die Gliedmaßen taub, aber wie ätherisch, denn noch immer steigt er aufwärts, eingehüllt in das wunderbare Licht, das Licht eines furchtbaren Wissens, das an die Grenzen des Wirklichen stößt – eines Wissens, das stirbt, um geboren zu werden.
FÜNFTE ITERATION
Das alles
sehende Auge
E in Nachmittag in der Horseferry Road. Es ist der 12. November 1855, die Aufnahme stammt von A. G. S. Hullcoop von der Abteilung für Kriminalanthropometrie.
Das Objektiv der von
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