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Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
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ihr Stichwort. Ihr Augenblick war gekommen. »Rächen Sie uns, General Houston!«, kreischte Sybil, die Kehle wie zugeschnürt vom Lampenfieber. Sie versuchte es noch einmal, stand auf und winkte mit einem Arm. »Rächen Sie uns, General Houston!«
    Houston stockte, überrascht. Sybil rief mit schriller Stimme: »Rächen Sie unsere Ehre, Sir! Rächen Sie Englands Ehre!« Ein alarmiertes Stimmengewirr erhob sich – Sybil fühlte die Blicke des gesamten Theaterpublikums auf sich, schockierte Blicke, wie man sie einer Geistesgestörten zuwerfen mochte. »Mein Bruder«, rief sie, aber Furcht hatte sie ergriffen, ihre Nerven versagten. Sie hatte nicht gedacht, dass es so schrecklich sein würde. Dies war schlimmer, als auf der Bühne zu singen, viel schlimmer.
    Houston hob beide Arme, dass die gestreifte Decke sich wie ein Umhang hinter ihm ausbreitete. Irgendwie gelang es ihm, das Publikum mit der Geste zu beruhigen und sich zum Herrn der Situation zu machen. Über seinem Kopf kam die Kinotrop-Darstellung allmählich zum Stillstand und ließ die Schlacht am San Jacinto mitten im Sieg erstarren. Houston musterte Sybil mit einem Blick, in dem sich Strenge und Resignation mischten. »Was gibt es, meine liebe junge Dame? Was beunruhigt Sie? Sagen Sie es mir.«
    Sybil ergriff mit beiden Händen die Sitzlehne vor sich, schloss die Augen und rief: »Sir, mein Bruder ist in einem texanischen Gefängnis! Wir sind Briten, aber die Texaner kerkerten ihn ein, Sir! Sie nahmen ihm seine Farm und sein Vieh! Sie stahlen sogar die Eisenbahn, an der er mitgearbeitet hatte, eine britische Eisenbahn, für Texas gebaut …« Ihre Stimme versagte gegen ihren Willen. Das würde Mick nicht schätzen, er würde ihren Auftritt kritisieren. Der Gedanke verschaffte ihr einen regelrechten Energieschub. Sie öffnete die Augen. »Dieses Regime, Sir, das diebische texanische Regime, hat die britische Eisenbahn gestohlen, die Arbeiter in Texas und die Aktionäre hier in England beraubt und uns nicht einen Penny bezahlt!«
    Mit dem Verlust der bunten Kinotrop-Bilder hatte sich die Atmosphäre des Theaters verändert. Plötzlich war alles ganz anders, seltsam intim und doch fremdartig. Es war, als wäre sie irgendwie mit dem General zusammen eingerahmt, zwei Gestalten in einer Daguerreotypie. Eine junge Londonerin in ihrer Haube und mit einem eleganten Schal, die sich in beredtem Kummer dem alten Haudegen und Kriegshelden zu wandte: Beide waren jetzt Schauspieler, die ihre Rollen verkörperten, und die überraschten Blicke des Publikums folgten ihnen in stummer Faszination.
    »Sie erlitten Schaden durch die Junta?«, fragte Houston.
    »Ja, Sir!«, rief Sybil, und ein eingeübtes Beben stahl sich in ihre Stimme. Du darfst die Leute nicht erschrecken, hatte Mick gesagt, aber sie sollen dich bemitleiden. »Ja, die Junta hat es getan. Sie ließ meinen Bruder in ihr abscheuliches Gefängnis werfen, ohne dass er ein Verbrechen begangen hätte, Sir, nur weil mein lieber Bruder ein Anhänger von Ihnen ist! Er wählte Sie, als Sie Präsident von Texas wurden, Sir! Und er würde heute wieder für Sie stimmen, obwohl ich sehr fürchte, dass sie ihn umbringen werden!«
    »Wie heißt Ihr Bruder, meine liebe Dame?«, fragte Houston.
    »Jones, Sir«, rief Sybil. »Edwin Jones aus Nacogdoches. Er arbeitete für die Hedgecoxe-Eisenbahngesellschaft.«
    »Ich glaube, ich kenne den jungen Edward!«, erklärte Houston in überraschtem Ton. Zornig packte er seinen Stock, und seine buschigen Brauen zogen sich zusammen.
    »Hör auf sie, Sam!«, ertönte eine tiefe Stimme. Sybil wandte sich erschrocken um. Es war der Mann aus den Argyll Rooms – der dicke Schauspieler mit dem roten Haar und der Samtweste. »Diese Banditen der Junta haben sich die Hedgecoxe-Eisenbahn angeeignet! Ein feines Geschäft, das, von einem angeblichen britischen Verbündeten! Ist das die Dankbarkeit für Jahre britischen Schutzes und britischer Anleitung?« Er setzte sich wieder.
    »Sie sind nichts als Diebe und Schurken!«, sekundierte ihm Sybil. Hastig durchsuchte sie ihr Gedächtnis und nahm dann den Faden wieder auf: »General Houston! Ich bin eine wehrlose Frau, aber Sie sind ein Mann von Größe, ein Werkzeug der Vorsehung! Kann es keine Gerechtigkeit für Texas geben? Keine Genugtuung für diese Affronts? Muss mein armer Bruder dort elend zugrunde gehen, während Betrüger und Tyrannen unser britisches Eigentum stehlen?«
    Nun ging Micks feine Rhetorik allmählich in Zurufen aus dem Publikum

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