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Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
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»Ich hatte daran gedacht, eine Droschke für Sie zu rufen, aber um diese Zeit …«
    »Ach nein, Mr. Keats, vielen Dank, aber ich werde die Untergrundbahn nehmen.«
    Seine hellen Augen weiteten sich. Keine anständige Frau fuhr ohne Begleitung mit der Untergrundbahn.
    »Aber Sie haben mir nicht Ihren Beruf genannt, Mr. Keats«, sagte sie in der Hoffnung, ihn abzulenken.
    »Kinotropie«, sagte Keats. »Die Techniken, die heute Abend hier eingesetzt wurden, sind von besonderem Interesse. Während die Auflösung der Leinwand ziemlich bescheiden und die Wiederauffrischungsrate entschieden langsam ist, konnten bemerkenswerte Effekte erzielt werden, vermutlich durch algorithmische Kompression – aber ich fürchte, das ist alles ein wenig technisch.« Er steckte seinen Chronometer wieder ein. »Sind Sie ganz sicher, dass es Ihnen nicht lieber wäre, wenn ich versuchte, eine Droschke zu rufen? Kennen Sie sich in London aus, Miss Jones? Ich könnte Sie zur nächsten Haltestelle begleiten und …«
    »Nein, Sir, vielen Dank. Sie sind äußerst freundlich gewesen.«
    »Es würde mir wirklich nichts ausmachen«, sagte er mit offenkundiger Erleichterung, als er eine der halb verglasten Türen zur Straße öffnete und für sie aufhielt. In diesem Augen blick erschien hinter ihnen ein magerer Junge, drängte sich eilig an ihnen vorbei und verließ das Theater ohne ein Wort. Er trug einen langen, schmutzigen Mantel aus Segeltuch, wie ihn der ein oder andere Fischer zu tragen pflegte. Ein seltsames Kleidungsstück für einen Vortragsabend, dachte Sybil, doch sah man bei den Armen häufig noch seltsamere Kleidungsstücke. Die Ärmel dieses Mantels wehten leer im Wind, als hätte der Junge ihn nur umgehängt und presste seine Arme gegen die Brust, vielleicht wegen der Kälte. Auch war sein Gang unbeholfen und gebeugt, als ob er betrunken wäre, vielleicht auch krank.
    »He, junger Mann!« Mr. Keats hatte nun eine Münze in der Hand, und Sybil begriff, dass er den Jungen beauftragen wollte, eine Droschke für sie zu besorgen; aber der Junge sah sich erschrocken nach ihnen um, das blasse Gesicht im Licht der Gaslampen wie ausgehöhlt. Plötzlich ergriff er die Flucht, dabei fiel etwas Dunkles unter seinem Mantel heraus und rollte in den Rinnstein. Der Junge machte halt und spähte wachsam zu ihnen herüber.
    Er hatte einen Zylinderhut verloren.
    Dann kam er zurückgetrottet, ohne Keats und Sybil aus den Augen zu lassen, hob den Hut auf, stopfte ihn unter seinen Mantel und lief wieder fort, diesmal freilich nicht annähernd so schnell.
    »Auf mein Wort«, sagte Mr. Keats in rechtschaffener Empörung, »dieser Kerl ist ein Dieb! Dieser Regenmantel ist vollgestopft mit den Hüten des Publikums!«
    Sybil wusste nicht, was sie sagen sollte.
    »Ich kann mir denken, dass der Schlingel die Unruhe ausgenutzt hat, die Sie verursachten«, sagte Keats mit aufkeimendem Misstrauen. »Ein Jammer! Heutzutage weiß man nicht mehr, wem man trauen darf.«
    »Sir, ich glaube wirklich, ich höre die Maschine Dampf aufmachen für das Kinotrop …«
    Und das reichte ihm.
    Der Einbau von Ventilatoren, schrieb der Daily Telegraph , hatte zu einer merklichen Verbesserung der Luft in der städtischen Untergrundbahn geführt, doch vertrat Lord Babbage die Ansicht, dass eine wahrhaft moderne Untergrundbahn ausschließlich nach pneumatischen Prinzipien arbeiten sollte, ohne irgendwelche Verbrennungsvorgänge, sondern in der Art und Weise, wie in ganz Paris die Rohrpost übermittelt wurde.
    Sybil saß in einem Wagen der zweiten Klasse; sie atmete so kurz und flach wie möglich, obwohl sie wusste, dass es alles Humbug war, zumindest das mit der merklichen Verbesserung, denn wer konnte wissen, welche technischen Wunder noch zu erwarten waren? Aber hatten die Zeitungen nicht auch die Aussagen von Ärzten veröffentlicht, die im Sold der Eisenbahn standen und darlegten, dass Schwefeldämpfe therapeutisch für Asthma seien? Bloß war es nicht nur der Rauch von den Dampfmaschinen, sondern auch der Gestank von Sielreinigungen und Gaslecks von den Gummisäcken, welche die Gaslampen in ihren drahtnetzgeschützten Glasschirmen versorgten.
    Es war ein seltsames Geschäft, die Untergrundbahn, wenn man es recht bedachte, wie sie mit solchen Geschwindigkeiten durch die Dunkelheit unter der Stadt ratterte, wo die Erd arbeiter auf bleierne Wasserleitungen der Römer gestoßen waren, und auf Münzen, Mosaiken und Torbogen und Elefantenzähne, die tausend Jahre und älter waren

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